Geschichte[]
Das Licht stirbt.
Der Himmel über mir wird schwarz, während die Sonne versinkt und rote Tupfer wie kleine Wellen über dem Horizont als letztes warmes Echo des Tages in den Himmel malt. Rote Tupfer fallen auch von mir, von meiner Rüstung, meinem Schwert. Das letzte warme Echo der Leben, die ich heute genommen habe. Anfangs habe ich nach einem Kampf noch versucht, mich reinzuwaschen, das Blut und den Tod von mir zu spülen, doch es gelang mir nie. Nach einer Weile gab ich auf.
Ich höre das Rascheln eines scharlachroten Umhangs, als jemand hinter mir das Bollwerk betritt. Aus dem Augenwinkel sehe ich die Rangabzeichen.
„Offizierin“, sage ich und will aufstehen.
„Ich bitte dich“, antwortet sie und bedeutet mir, sitzen zu bleiben. Ich hatte kurz vergessen, dass ich jetzt meine Krieger anführe, dass wir auf Augenhöhe sind, aber es fühlt sich falsch an. Sie ist von Adel, ich nur eine verwaiste Schwertkämpferin.
Ich kenne sie, die Kavallerieoffizierin, die wir als einen weiteren Versuch in die Berge gebracht haben, um einen Ausweg aus der Pattsituation zu finden, die uns ausblutet. Sie ist stolz, erfahren, grimmig. Als würden die Augen unseres Imperiums jeden ihrer Schachzüge beobachten. Sie mustert mich kurz. „Du siehst aus, als bräuchtest du Schlaf.“
Ich sehe hoch. „Sie setzen Bomben ein, die Schreie von Kindern nachahmen, um uns den Schlaf zu rauben, oder sie schleichen sich nachts heran, wenn nur die Sterne zusehen, um uns die Kehlen aufzuschlitzen.“
Der Blick der Offizierin verliert sich grüblerisch in der Ferne. „Ich habe von einem Offizier der Neunten Kohorte gehört, dass sie im Traum töten können.“
„Im Traum?“, frage ich.
Sie nickt.
Ich atme hörbar aus. „Was macht man, wenn sie einen im Traum töten?“
Sie zuckt mit den Achseln und verzieht den Mund müde zu einem schiefen Lächeln. „Sich nicht daran erinnern, schätze ich.“
Ich höre kein Tier in der Nähe, weiß aber, dass eines nie weit von ihr entfernt ist. „Wo ist dein Reittier?“
Ihr Gesicht verdunkelt sich. „Das Gebiet, das wir letzte Woche erobert haben … Ihre Hexe …“
Ich muss schlucken und schließe für einen Moment die Augen, um die Erinnerung wegzuschieben.
„Bevor sie starb“, fuhr sie fort, „flüsterte die Hexe ihm etwas ins Ohr, was wohl für mich bestimmt war. Eine zehrende Krankheit. Heute Morgen konnte er nicht mehr stehen.“
„Tut mir leid.“
„Er litt darunter, also hab ich ihn erlöst.“ Sie sieht mich an. „Leidest du?“
Ich erwidere ihren Blick. Sie schmunzelt.
„Entspann dich, das Imperium braucht dich. Ich meine das da.“
Sie deutet mit dem Kinn auf mein Schwert, dessen riesige Klinge in der Erde neben mir steckt und immer noch rote Tupfer hinterlässt.
„Das Schwert ist ein Geschenk“, sagt sie, ihre Worte sorgfältig auswählend. „Ich habe gesehen, wie geschickt du es führst, doch mit der Zeit kann ein Segen auch zum Fluch werden. Bei allem, was geschehen ist, warst du so stark. Wenn die Last, die du trägst, zu schwer geworden ist, würde ich sie auch für dich tragen.“
„Nein.“ Meine Hand greift reflexartig nach dem Schwert, dessen furchtbares Gewicht mich beruhigt. „Ich muss tragen, was mir gehört. Ich würde es niemand anderem zumuten. Selbst wenn ich daran zerbreche.“
Sie schweigt, während sie mich mustert. Ihre Augen sind einen Moment lang kalt, dann lächelt sie. „Ich wollte dir damit nicht zu nahe treten – wie gesagt, wir brauchen dich. Wir haben gemeinsam Blut vergossen und sind dadurch Schwestern geworden.“
Der Schrei eines Kindes zerreißt die junge Nacht. Er hängt in der Luft und zerrt mit seiner unnatürlichen Länge an ihr. In diesem Moment wirkt Schlaf wie etwas aus einem anderen Leben, hier ist er unmöglich.
„Hier ist es wirklich furchtbar. Wir werden gemeinsam etwas Besseres erschaffen.“ Sie steht auf und drückt eine Faust fest an die Brust. „Für Darkwill.“
„Für Darkwill“, antworte ich und erwidere den Salut. „Danke, Offizierin.“
Sie schüttelt den Kopf. „Nenn mich Marit.“
blinzelte den Schweiß an ihren Augen fort. Das Brennen holte sie aus ihrer Erinnerung und brachte sie zurück zur Ruhe des Feldes. Ihre Sinne passten sich an die Gegenwart an. Da war der schwere Geruch der Erde und der reifen Ernte, die scharfkühle Luft, die sich rot färbenden Blätter, die Hitze der Sonne auf ihrer Haut.
Sie lief über das Feld, durch die Reihen breiter Blätter und dicker Stängel, durch die Sonnenlicht in goldenen Strahlen fiel. Für einen kurzen Augenblick war Riven wieder klein. Sie war auf den Feldern aufgewachsen, doch die Gerste, die sie in ihrer Kindheit anbaute, wuchs ihr nie über den Kopf hinaus und hatte auch nicht den magisch schimmernden Glanz, der alles in den Ersten Landen überzog. Alle paar Schritte gab es eine Lücke, eine vom Licht hervorgehobene Stelle, die des Lehens wegen bereits gemäht war, der beste Teil der Ernte, der bereits auf den Markt gebracht worden war. An jeder dieser Stellen hielt sie immer inne, blieb in der Sonne stehen, die ihre Hitze über sie ergoss, während sich in ihr alles zusammenzog.
Die Sonne hatte ihren Zenit bereits erreicht, die heißesten Stunden des Tages waren angebrochen. Riven hob ihren Unterarm vor die Stirn und versuchte, sich mit staubtrockener Kehle zu räuspern. Der Gedanke an Wasser machte sich in ihr breit.
Sie trat zwischen den Ähren hervor und stieß auf Asa, der mit gütigem Blick und einem Trinkschlauch in der Hand auf sie wartete. Riven war ihrem Adoptivvater gegenüber seit der Rückkehr vom Markt abweisend gewesen. Sie wollte ihm Ruhe zum Nachdenken, zum Erleben seiner Emotionen schenken.
Damit er seine Frau zu Grabe tragen konnte.
„Die Suppe ist bald fertig“, sagte er. Dann sah er zu Boden. „Ich glaube, ich habe schon wieder zu viel gemacht. Ich hab’s vergessen.“
Rivens Augen schnellten zum Schrein hinüber, den sie Shava Konte errichtet hatten, die für sie so etwas wie eine Mutter gewesen war. „Verzeih mir, Väterchen.“
„Was denn?“ Asa legte den Kopf schief und sah sie an.
„Ich hätte allein zum Markt gehen sollen“, setzte Riven erneut an. „Du warst nicht hier, als …“
„Es sind nicht deine Schultern, auf denen die Last der Welt getragen werden muss“, sagte Asa und schüttelte langsam den Kopf. „Genauso wenig ist der Weg der Sterne am Himmel deine Last, oder der Tanz, der durch den Schleier hindurch vollführt wird. All dies bewegt sich in großartiger Harmonie, ist jenseits unseres Einflusses.“
„Und doch fühle ich mich schuldig.“
„Wir sind für unser Handeln verantwortlich, für die Entscheidungen, die unser Herz trifft.“ Asa bot Riven den Trinkschlauch an. „Ich kenne dein Herz, Dyeda. Es ist rein.“
„Aber nicht alles davon.“ Riven nahm den Wasserschlauch, den Blick weiterhin auf den Schrein gerichtet. „Ich vermisse sie, Väterchen.“
„Ich auch“, sagte Asa und stellte sich neben sie. „Und doch trauere ich nicht um meine geliebte Shava, denn sie ist für uns nicht vergangen. Sie hatte Frieden gefunden, als wir sie fanden. Sie verspürte keinen Schmerz und das Glück schenkte ihr das Ableben im Schlaf. Ich halte sie in Ehren, bin ich mir doch sicher, dass ich sie wiedersehe, wenn die Blumen sich das nächste Mal öffnen.“
Riven spürte, wie eine Träne ihre Wange hinunterkullerte. „Glaubst du, wir werden ihre Blume leicht finden können?“
„Die meiner Angetrauten?“ Ein breites Lächeln ließ Asas Gesicht erstrahlen. „Ich glaube, eine einzelne Blume kann ihre Seele gar nicht beherbergen. Diese Frau wird eine Wiese einnehmen.“
Riven lächelte, als sie Asa ansah, doch aus seinem Gesicht war die Freude verschwunden. Sie folgte seinem Blick und drehte sich um. Wie gelähmt starrte er eine kleine Gruppe an, die in der Ferne aufgetaucht war.
Das Blut gefror ihr in den Adern. Ihr Herz blieb stehen, als sie von blanker Ungewissheit, von einer Unausweichlichkeit übermannt wurde, vor der sie keine Zuflucht mehr zu finden hoffte. Der Geruch eines Lagerfeuers stieg Riven in die Nase, die Worte der Heilmacherin, die sie auf ihrem Weg getroffen hatten, klangen dröhnend in ihrem Kopf nach.
„Väterchen“, sagte Riven und ballte die Hände zu Fäusten. „Versteck dich.“
„Eine Farm“, sagte Marit seufzend. „Im Ernst?“
Erath folgte den Jägerinnen, die den vor ihnen liegenden Landstrich begutachteten. Der östliche Horizont war von riesigen Säulen aus Naturstein gesäumt, die wie die gebrochenen Rippen eines vor langer Zeit verstorbenen Gottes emporragten. Im Westen erstreckte sich ein Wald, der in tausende Rottöne getaucht war, und dazwischen lag in einsamer Bescheidenheit ein Farmhaus.
„Vielleicht hat der Krieg wirklich etwas in ihr zerbrochen“, meinte Tifalenji. Das Summen ihres Schwertes war im Laufe der Reise zu schallendem Gesang herangewachsen, je weiter sie die verätzte Erde des chemischen Schlachtfeldes hinter sich ließen. Hier und jetzt konnte man es eher spüren als hören, ein Gefühl, das jeden bis aufs Mark erzittern ließ und Kopfschmerzen verursachte. „Sie will schöpfen und erschaffen, versuchen, den Schmerz ihrer Vergangenheit zu lindern.“
„Sie baut Getreide an, hegt und pflegt es, nur um es dann zu ernten. Um es zu mähen und zu verkaufen“, sagte Marit abfällig. „Ein Dichter könnte damit sicher was anfangen.“
„Vergiss nicht“, sagte Arrel und streckte die Hand aus, um Eins am Kopf zu kraulen. „Wir wollen sie lebend.“
„Lebend“, wiederholte Marit. „Ein dehnbarer Begriff. Wie viele Körperteile sind das?“
„Marit …“ sagte Teneff warnend.
„Sie hat uns verraten.“ Marit starrte sie vom Rücken ihrer Lady Henrietta aus an. „Nicht die Armee, nicht einmal Noxus, sondern uns. Und für Deserteure und Verräter gibt es keine Gnade. Oder hast du das schon vergessen?“
Teneff erwiderte ihren starrenden Blick. „Nein, habe ich nicht. Aber wir gehen die Sache mit klarem Kopf an und kehren mit ihr in Ketten gelegt zum Imperium zurück. Verstanden?“
Erath hatte die Hand nach Talz ausgestreckt und tätschelte seine Flanke, während er zuhörte. Er war nicht ins Gespräch eingebunden, fühlte sich aber dennoch zugehörig, besonders nach Marits spitzer Bemerkung über Deserteure. Statt nach all dem, was geschehen war, Ärger zu verspüren, musste er aber feststellen, dass er ihre Meinung teilte. Der Verrat seines Vaters saß noch immer tief, zerriss ihm das Herz und ließ nicht locker.
Teneff fiel ein paar Schritte zurück, sodass Erath zu ihr aufschließen konnte.
„Ich bezweifle, dass sie friedlich mitkommen wird – es läuft mit Sicherheit auf eine Konfrontation hinaus“, sagte die Kriegerin, die um ihren Unterarm gewickelte Kette in den Händen wiegend.
„Die Vorstellung scheint Euch zu begeistern“, erwiderte Erath.
Teneff lächelte schief. „Stelle dich einfach darauf ein. Mach, was du bisher getan hast, du hast dich im letzten Kampf recht gut geschlagen.“
„Hätte ich etwa gekränkt sein und mich meinen Gefühlen hingeben sollen, weil ich einem Feind das Leben genommen habe?“, fragte Erath schnaubend. „Wer bin ich denn, ein Mädchen aus Demacia?“
Die Frauen drehten sich gleichzeitig um und starrten ihn an.
„Was?“, sagte Erath und sah sie an. „Ich sagte, aus Demacia.“ Sie drehten sich wieder nach vorn.
Arrel warf Tifalenji einen Blick zu und verzog wegen der Geräusche ihres Schwertes das Gesicht. „Muss das denn immer noch sein?“
„Nein“, sagte die Runenschmiedin grinsend. Sie fuhr mit der Hand über das mit Runen gravierte Schwert und die Geräusche verstummten. „Die Fährte hat ausgedient. Ich kann sie selbst spüren, die Beute ist in Sichtweite.“
Die Noxianer näherten sich der Farm. Erath hörte, wie die Jägerinnen sich etwas zuflüsterten: Sie marschierten in den Krieg und besprachen gedämpft ihre Taktiken. Aufstellung, Winkel und Orientierungspunkte, wer was im Falle eines ausbrechenden Kampfes tun würde, alles auf gelangweilte, beinah erschreckend ruhige Art erörtert. Ihre Hände umschlossen währenddessen fest ihre Waffen.
Die Jägerinnen diskutierten ihre Vorgehensweise, als würden sie eine Festung belagern oder auf eine ganze Armee treffen. Sie waren vor Riven auf der Hut und sich der Verheerung genau bewusst, zu der Riven in der Lage war. Erath stellte sich daher eine rücksichtslose Kriegerkönigin mit einem verzauberten Schwert vor, die inmitten ihrer Feinde und in deren Blut getränkt auf dem Schlachtfeld stand.
Diese Vorstellung konnte er kaum mit der einsamen Farm in Einklang bringen, der sie sich näherten. Gelassenheit und Ruhe herrschten an diesem Fleckchen Erde, das weit weg von der Pracht und dem Chaos gelegen war, die Erath auf seiner Reise durch Ionia begegnet waren. Er überlegte einen Augenblick, ob die Erkenntnis, dass er nun am Ziel seiner Reise angelangt war, diesen Widerspruch auslöste. Er dachte an die unsterbliche Bastion zurück, deren Türme er vor einer gefühlten Ewigkeit angestarrt hatte.
Wer dieser andere Erath auch war, der jetzige Erath war bereit, dem Imperium gegenüber seine Pflicht zu tun und diese Verräterin zur Rechenschaft zu ziehen.
Talz stieß ein kehliges Knurren aus, das beinah erstickt klang. Erath runzelte die Stirn, zog suchend Talz’ Zahnfleisch zurück und entfernte schließlich einen besabberten Hühnerknochen.
„Wann hast du denn Hühner gegessen?“, murmelte er.
Talz grunzte. Einen Moment lang starrte Erath das Tier an. „Na komm“, sagte er dann und zupfte an den Zügeln des Basilisken, bevor er den Knochen wegschleuderte.
Ein Feldweg führte zur Farm. Erath sah sich um, während sie sich näherten: ein Haus im gleichen organisch-verwebten Stil, der überall in Ionia zu finden war, eine Scheune, die groß genug für einen oder zwei Ochsen war, und ein kleines Stück Land mit Getreide, von dem einige Stellen bereits gemäht und abgeerntet waren. Er versetzte sich wieder in die Jägerinnen hinein, wollte wie sie denken, wie er es in der Ausbildung gelernt hatte. Wo könnte ein Hinterhalt lauern? Wo eignete sich das Gelände am besten für einen Kampf und wohin können wir uns zurückziehen, wenn dieser Kampf eine schlechte Wendung nimmt?
Erath sah keine Gelegenheiten für einen Hinterhalt, keine Bauerntruppe, die mit allem, was ihnen in die Hände fiel, ihr Land verteidigt. Nur eine Frau in dreckiger Kleidung stand einsam und allein am Ende der Straße.
Die Jägerinnen hielten ein Stück von ihr entfernt an und musterten sie sorgfältig.
„Wer ist das?“, fragte Erath.
Teneff atmete langsam ein. „Das ist Riven.“
Erath musste blinzeln. „Das ist sie?“
„Das ist sie“, antwortete Arrel.
Er sah genauer hin. „Sie sieht nicht so aus, wie ich sie mir vorgestellt hatte.“
„Der Schein kann trügen, Diener“, sagte Marit. „Du siehst zum Beispiel aus wie ein Idiot.“ Sie dachte einen Augenblick über ihre Worte nach. „Auch wenn das vielleicht ein schlechtes Beispiel ist.“
„Wo ist es?“
Nun blickten alle Tifalenji an.
„Wo ist was?“, fragte Teneff.
„Ihr Schwert“, antwortete die Runenschmiedin mit zusammengebissenen Zähnen. „Ich spüre es, aber nicht nur an einem Ort, sondern überall verstreut. Etwas stimmt hier nicht.“
„Also, sie hat es zumindest nicht bei sich“, sagte Marit. „Das überrascht mich. Vielleicht hat sie es zu Pflugmessern eingeschmolzen.“
Tifalenji warf Marit einen zornigen Blick zu. Die Reiterin kicherte, wenn auch freudlos.
„Ich weiß. Ich hoffe es auch nicht.“
Einen Moment lang sagte niemand etwas. Riven stand vor der Tür ihres Farmhauses, die Jägerinnen standen aufgereiht vor ihr. Erath blieb mit Talz ein wenig hinter den anderen zurück und versuchte, zwischen den Frauen hindurch einen Blick auf das Geschehen zu erhaschen.
Die Stille dehnte sich, war kaum zu ertragen und wurde dann endlich gebrochen.
„Hallo, Schwester“, sagte Teneff laut.
„Teneff.“ Riven sprach leise, beinahe sanft. In ihrer Stimme schwang Traurigkeit mit. Erath konnte keine Wut oder Angst darin hören, nur Schmerz. Gram und Kummer umgab den Namen ihrer ehemaligen Kameradin. Rivens Blick huschte von einer Noxianerin zur nächsten, musterte sie kurz und blieb dann an der Fährtenleserin und ihren Hunden hängen. „Arrel. Die Welpen sind groß geworden.“
Arrel legte den Kopf schief.
„Sie weiß also doch noch, was für ein Leben sie weggeschmissen hat“, rief Marit aus, blickte erst die anderen Jägerinnen an und dann zu Riven zurück. „Wen sie verraten hat.“
Auf Rivens Gesicht zeichnete sich Überraschung ab, als sie die Stimme der maskierten Frau hörte. „Marit?“
„Mit Narben und so“, sagte die Reiterin höhnisch. Lady Henrietta zischte. „Du musst doch gewusst haben, dass dieser Tag irgendwann kommt.“
Riven atmete tief aus. „Es war wohl nur eine Frage der Zeit.“
Teneff ging einen Schritt nach vorn. „Und jetzt ist diese Zeit gekommen. Du bist allein?“
„Ja“, antwortete Riven.
Arrel verengte die Augen zu Schlitzen. „Und das sollen wir dir glauben?“
„Hier lebte noch jemand“, sagte Riven und deutete auf den Totenschrein neben der Haustür. Erath erkannte, dass er neu gebaut war. „Sie ist verstorben, jetzt bin nur noch ich hier.“ Der Blick in ihren Augen wurde hart. „Was wollt ihr?“
„Dich, Riven“, sagte Marit und lehnte sich vom Sattel nach unten. „Wir sind wegen dir hier.“
Erath beobachtete, wie Rivens Körper sich anspannte. Die Muskeln ihrer athletischen Arme zuckten, die Finger verkrampften sich um den Griff eines Schwertes, das sie nicht einmal hielt. Der Klingenknappe ließ seine Hand nun ebenfalls auf den Knauf seines noch eingesteckten Malchus’ fallen.
„Hast du vor, uns Schwierigkeiten zu bereiten, Schwester?“ Teneff ließ die stachelbewehrte Kette in ihrer Hand locker und der schwere Eisenhaken schlug heftig auf dem Boden auf. „Hast du vor, dich daran zu erinnern, wer du wirklich bist?“
„Diese Person bin ich nicht mehr“, sagte Riven leise. „Das habe ich alles weit hinter mir gelassen.“
„Aber nicht weit genug“, entgegnete Arrel.
Einige Herzschläge lang herrschte Stille, die vor Spannung förmlich vibrierte. Erath sah zwischen den Jägerinnen und Riven hin und her, wartete darauf, dass eine Seite den ersten Zug machte, dass sich das Schwert der Verräterin wie durch Magie in ihrer Hand materialisierte und ein heftiger Kampf sich entspann.
„Gut“, sagte Marit und überraschte Erath, als sie ein Bein über Lady Henrietta schwang, abstieg und ihm die Zügel übergab. „Du hast Gäste. Bist du so höflich und bittest uns hinein? Wir haben ja so viel zu besprechen.“
Einen Moment lang rührte sich Riven nicht, trat dann aber neben die offene Tür und deutete hinein. „Aber bitte doch.“
Die Jägerinnen traten über die Schwelle und in das Farmhaus. Jede einzelne legte ihre Waffe neben der Tür ab. „Bleibt“, befahl Arrel ihren Hunden. Das Trio schnaubte und winselte, ließ sich dann jedoch zu beiden Seiten des Eingangs nieder. Erath wollte den Jägerinnen schon folgen, als Tifalenjis Hand sich um seinen Arm schloss.
„Du nicht“, murmelte die Runenschmiedin und ihre Finger bohrten sich in sein Fleisch. Ihre Stirn war in Falten gelegt, ihre Augen huschten hin und her. Erath bemerkte, dass sie ihren Kopf leicht schief gelegt hatte, als lauschte sie angestrengt einem Geräusch, das knapp außer Hörweite war. „Du kommst mit mir.“
Riven beobachtete, wie die Jägerinnen sich nebeneinander am Tisch niederließen, alle drei an einer Seite. Sie strahlten Emotionen aus, die Riven wie Wellen entgegenschlugen und in ihr eine Flut aus Alarmsignalen, aus Schrecken auslösten – und in einem Winkel ihres Herzens auch Erleichterung.
Sie hatte an der Seite dieser Frauen gedient, diesen schwesterlichen Bund in Feuer und Blut geschmiedet. Im Grunde waren sie ihr vertraut, aber sie hatten sich auch verändert, hatten zusätzliche Narben erlitten, deren Ursache Riven nicht kannte. Riven wusste, dass auch sie sich verändert hatte. Der breite Tisch trennte die Parteien voneinander wie eine klaffende Schlucht. Die Drei waren für sie beinahe Fremde, nur als die Kameradinnen maskiert, die sie einst so gut gekannt hatte.
Marit war tatsächlich maskiert. Sie ertappte Riven dabei, als diese sie anstarrte.
„Ach, die hier?“ Die Reiterin griff sich mit der Hand an den Hinterkopf und löste die Schnallen. Sie zog die Maske vom Gesicht. Bei ihrem Anblick wurde Riven das Herz schwer.
„Was ist denn, Schwester?“, fragte Marit und lehnte sich nach vorn. „Weißt du nicht mehr, was passiert ist? Das Feuer, die Schreie? Du warst doch schließlich dabei.“
Rivens Augen brannten. „Was ist nur passiert, Marit?“
„Ich habe überlebt.“ Marits zerstörtes Gesicht verzog sich zu einem grausamen, lippenlosen Lächeln. „Aber hey, das wüsstest du ja, wenn du bei uns geblieben wärst.“
Riven sah weg. „Ich dachte, ihr wärt alle tot.“ Die Worte waren ehrlich gemeint. Bis zu diesem Tag hatten sie für Riven auch den Tatsachen entsprochen, doch nun wusste sie nicht mehr, ob sie damit die Jägerinnen oder sich selbst überzeugen wollte.
„Das sind wir nicht“, sagte Arrel krächzend und räusperte sich. Es klang schmerzhaft. „Wie gründlich hast du uns denn gesucht?“
„Es ging alles so schnell“, sagte Riven, in Erinnerungen verloren. „Emystan, als sie das Feuer auf uns eröffnet hat …“
„Diesen Namen sagst du nicht in meiner Gegenwart“, raunzte Teneff sie an. Marit warf der Kriegerin einen Blick zu. Teneff stand auf. „Und versuche nicht, anderen die Schuld zuzuschieben. Du bist weggerannt.“
„Was weißt du noch von diesem Tag?“, fragte Arrel und hustete Schleim aus der Lunge.
Riven schloss die Augen. Zerrissene Bilder blitzten vor ihrem inneren Auge auf, in ihren Ohren dröhnten brüllendes Feuer und Schreie. Der beißende Rauch von verbranntem Fleisch und Gift brannte ihr in der Nase. Höllenqualen, Stress, Finger, die an ihren Stiefeln zerrten und sie anflehten, sie zu retten. Doch das konnte sie nicht.
„Nur wenig“, antwortete Riven schließlich. „Bruchstücke. Keine Ahnung, wie ich überlebt hab, hatte was mit meinem Schwert zu tun.“
„Du siehst auch aus, als hättest du keine Verletzungen davongetragen“, sagte Marit.
„Das stimmt nicht“, sagte Riven nachdrücklich. „Ich habe meine Narben.“
„Die haben wir alle“, sagte Teneff. Sie sah Riven vernichtend an. „Warum bist du weggerannt?“
Erath folgte dicht hinter der Runenschmiedin Tifalenji, die sich wie in Trance bewegte. Schweiß rann ihr Gesicht herunter, während sie mit geschlossenen Augen über das Gelände ging. Die Spitze ihres Schwertes schnellte durch die Luft, die Runen darauf schimmerten und pulsierten. Erath warf einen Blick zurück aufs Farmhaus und fragte sich, was wohl darin vorging. Er wäre beinahe mit Tifalenji zusammengestoßen, als sie vor der Scheune anhielt.
„Hier drin“, murmelte sie, „ist was.“
Erath war bis aufs Äußerste angespannt. Bisher waren sie der Runenmagie gefolgt, die dem Schwert innewohnte, und hatten die Verräterin erfolgreich aufgespürt. Also musste auch das Schwert irgendwo da drin versteckt sein. Nachdem der Klingenknappe erlebt hatte, was Tifalenji mit ihrer Waffe ausrichten konnte, wollte er ein derart mächtiges Relikt unbedingt mit eigenen Augen sehen.
Die Scheune war klein. Nur ein magerer Ochse kaute zufrieden auf einem Büschel Stroh in seinem Stall. Erath dachte an Talz und Lady Henrietta, die er provisorisch draußen angebunden hatte, und war froh, dass er sie nicht hier hineingebracht hatte. Talz war viel zu groß und hätte das Gebäude wahrscheinlich zum Einsturz gebracht und Lady Henrietta wäre zu sehr am Ochsen interessiert gewesen … und es war eine Menge Arbeit, all ihren Schmuck zu säubern.
Die Spitze von Tifalenjis Schwert hielt abrupt über einem Strohhaufen inne. „Hier“, hauchte sie und hockte sich hin. „Verflucht sei sie, dass sie so ein Schwert wie ihres ausgerechnet hier versteckt hat.“
Tifalenji wühlte sich durch den Haufen und schaufelte Stroh und Heu beiseite. Schließlich hielt sie ihr Schwert darüber, flüsterte ein paar Silben, woraufhin die Spreu verbrannte und ein flaches Stück Metall enthüllte, das ungefähr so groß wie Eraths Faust war. Er konnte einen kleinen Teil einer Rune erkennen, die in das dunkle Material graviert und dort abgeschnitten war, wo das Fragment anscheinend vom Ganzen abgetrennt worden war.
„Nein“, sagte Tifalenji mit stockendem Atem, als sie es berührte. „Nein, nein, nein …“
Erath trat einen Schritt zurück und spürte, wie Zorn wie eine Hitzewelle über die Runenschmiedin rollte. „Ist das ein Teil des Schwerts? Wie kann etwas so Mächtiges zerbrochen sein?“
„Sie hat es getan.“ Eine Träne lief Tifalenjis Wange hinunter, als sie ihre Finger um das Fragment schloss. „Sie hat es wirklich getan.“
Erath blickte zurück zum Farmhaus und dachte an die Verräterin, die mit den Jägerinnen darin war. Was war dieser Frau zugestoßen?
Plötzlich sprang Tifalenji auf und wandte sich mit glühenden Augen in einer aggressiven Bewegung an Erath. „Hier sind noch mehr solcher Teile“, zischte sie. „Ich kann sie spüren und du wirst sie mit mir zusammen finden. Jedes einzelne Teil.“
Riven schöpfte Suppe in Schüsseln und stellte eine vor jede Jägerin, bevor sie sich selbst auftat.
„Du hast wirklich viel Suppe gekocht“, bemerkte Marit und warf einen Blick auf den großen Topf, der auf dem Feuer vor sich hin kochte. „Du musst ziemlich viel Appetit haben, Riv.“
Riven schluckte einen Löffel Brühe hinunter. „Ein bisschen davon esse ich gleich. Der Rest kann eine Woche oder so auf dem Feuer köcheln.“
Marit rührte in ihrer Suppe herum. „Wie reizend.“
„Du hast meine Frage noch nicht beantwortet“, sagte Teneff hartnäckig. Sie hatte ihr Essen nicht angerührt. „Sag mir, warum du alles aufgegeben hast, worauf du dein Leben geschworen hast. So viel schuldest du uns.“
Riven hörte auf, zu essen, und legte ihren Löffel auf den Tisch. „Ich war eine Waise. Mein Vater ist irgendwo weit weg von Zuhause im Kampf gestorben und mir wurde nie gesagt, wo. Meine Mutter ist bei meiner Geburt gestorben. Als Noxus mich einberief, stürzte ich mich auf die Gelegenheit – nicht wegen eines Abenteuers oder dem Wunsch nach Blutvergießen.“ Sie sah die Jägerinnen an. „Sondern weil ich eine Familie wollte. Weil ich endlich irgendwo dazugehören wollte. Das änderte sich an jenem Tag in Navori, als der Regen von denen in Brand gesetzt wurde, die wir Verbündete nannten.“
Riven atmete tief ein und kämpfte gegen die aufkommende Erinnerung an. „Wir haben ihnen nichts bedeutet. Wir haben ihnen nie etwas bedeutet.“
„Noxus ist nicht mehr das Imperium, das du im Stich gelassen hast“, sagte Teneff. „Noxus hat sich entwickelt. Sich verändert. Darkwill ist tot, der Adel ist vernichtet.“
Riven bemerkte, wie sich Marits Augen verengten, wie die Maske aus Narben unwillkürlich zuckte.
„Das Imperium ist zu einem Ort geworden, an dem jeder, der stark genug für den eigenen Erfolg ist, diesen auch haben kann“, fuhr Teneff fort. „An dem wir alle gemeinsam daran arbeiten, eben diese Freiheit und Bedeutung an jeden Ort unter der Sonne zu tragen.“
Riven dachte über ihre Worte nach. „Wenn dieses neue Noxus irgendwie anders ist, warum bin ich dem Imperium dann noch so wichtig?“
„Uns bist du wichtig“, sagte Arrel.
„Wir haben alle gedacht, dass du tot bist“, fügte Marit hinzu. „Eine gefallene Heldin. Und stattdessen haben wir von anderen erfahren, dass du nicht nur noch am Leben bist, sondern auch denen den Rücken zugewandt hast, die für dich gestorben wären.“
„Ich habe hier eine Heilmacherin getroffen“, sagte Riven. „Eine Heilerin der zerbrochenen Dinge, der Töpferwaren, Steinwaren. Sie hat zu diesen Dingen gesungen, ihren Talisman angerufen und den Rändern geholfen, wieder zueinander zu finden und eins zu werden. Sie hat mir gesagt, dass die Geister, die allen Dingen innewohnen, danach streben, eins zu sein, aber ich weiß nicht, ob ich das glauben soll. Ich glaube, dass manchmal das, was zerbrochen ist, nicht mehr zusammengesetzt werden kann. Manchmal gibt es keinen Weg zurück. Manchmal ist es auf ewig zerbrochen und so sollte es auch bleiben. So muss es bleiben.“
Während Tifalenji sich auf der Farm umsah und auf der Jagd nach Fragmenten vor sich hin murmelte, näherte sich Erath auf ihre Anweisung der Tür zum Keller. Neben dem Totenschrein, der erst vor Kurzem erbaut worden war, hielt er inne und bewunderte den eleganten Stil des kleinen Bauwerks.
Einen Moment lang dachte er darüber nach, auch hier nach einem Fragment zu suchen, doch schließlich stellte er fest, dass er den Schrein nicht schänden wollte. Tifalenji hatte ein weiteres Schwertfragment gefunden. Sie trauerte bei jeder Entdeckung wie um einen verlorenen Freund. Falls sie eines im Schrein finden würde, so würde sie Eraths Bedenken zweifellos nicht teilen, dachte er.
Aus dem Inneren des Farmhauses hatte Erath keinen Laut gehört. Keine Schreie, kein Lärm, der auf Gewalt hindeutete. Er war unglaublich neugierig und wollte herausfinden, was sich im Haus abspielte, wo die Jägerinnen die Antworten finden würden, die sie auf der Suche nach Riven quer durch Ionia getrieben hatten, doch er wusste, dass er dort nicht willkommen war. Was sich in den vier Wänden dieses Hauses auch abspielte, war eine Sache zwischen den vier Schwestern und niemandem sonst.
Und doch musste Erath sich einfach fragen, wie lange es so bleiben würde.
Er hockte sich hin, griff nach der Kellertür und zog sie nach oben, um sie zu öffnen. Kühle, feuchte Luft strömte ihm entgegen. Vor ihm lagen unebene Steinstufen und führten nach unten in die Finsternis. Erath spähte in die Dunkelheit und wünschte sich, er hätte sein eigenes Runenschwert dabei, allein um sich den Weg zu leuchten.
Stattdessen musste er sich auf herkömmliche Methoden verlassen. Er ging hinüber zu Talz. Nachdem er überprüft hatte, dass sowohl Talz als auch Lady Henrietta fest angebunden waren, sich auch nicht losreißen und ihm noch mehr Ärger bescheren konnten, fertigte Erath sich mit dem Material, das der Basilisk auf seinem Rücken trug, eine kleine Fackel.
Da er nun etwas sehen konnte, ging er die Kellertreppen hinunter. Er hielt die Fackel vor sich, konnte aber dennoch nur klar erkennen, was direkt in ihrem flackernden Licht lag. Er sah vage Umrisse mehrerer Haufen Sackleinen, Farmwerkzeuge und Regale voller verschlossener Ton- und Steingefäße.
Dann hörte Erath ein Geräusch – ein kurzes, heftiges Rascheln im Dunkeln.
Sein Messer lag sofort in seiner Hand. Im Keller war es eng, zu eng für seinen Malchus. Er erstarrte, lauschte angestrengt und leuchtete mit seiner Fackel langsam um sich.
Das Licht ließ in dem Teil des Kellers, den Erath ausleuchtete, Formen und Texturen entstehen. Er konzentrierte sich auf die Geräuschquelle, atmete langsam, gleichmäßig und solide, so solide, wie er auch das Messer in seiner Hand hielt. Dann hielt er plötzlich inne, als er entdeckte, dass das Licht der Fackel sich in einem Paar weit aufgerissener, angsterfüllter Augen spiegelte.
Dies war kein Runenklingenfragment. Das war ein Mann.
„Und du glaubst, das akzeptieren wir?“ Marit hatte ihr Essen immer noch nicht angerührt, war sie doch auf alles andere als ihren Appetit konzentriert. „Nach allem, was wir durchmachen mussten, nach all dem Blut, das wir vergossen haben? Da glaubst du, wir drehen einfach wieder um und lassen dich in Ruhe, als wäre nichts passiert?“
„Es ist viel passiert“, sagte Riven und schüttelte langsam den Kopf. „Zu viel. Geht zurück und sagt ihnen, ich bin tot. Darin steckt mehr als nur ein Körnchen Wahrheit. Die Riven, die ihr kanntet, ist tot. Ich bin ein anderer Mensch geworden, ein gebrochener Mensch, den dieses Land immer noch zur Verantwortung zieht.“
„Das ist eine Lüge“, sagte Arrel mit rauer Stimme. „Wir sind die, die dich zur Verantwortung ziehen.“
„Dein ganzes Leben hier ist eine Lüge, Riven“, sagte Teneff. „Du kannst nicht davonrennen, nicht mehr. Sei die Noxianerin, die wir einst kannten, unsere Schwester. Kehre mit uns zum Imperium zurück, stelle dich endlich erhobenen Hauptes deiner Verantwortung. Wenn du dich tatsächlich als gebrochene Person wahrnimmst, dann wirst du daheim das letzte Teilstück finden, um wieder ein Ganzes zu werden.“
Marit verzog ihr Gesicht zu einem schiefen Grinsen. „Vielleicht richten sie dich noch nicht mal hin.“
„Es hat sich viel geändert“, sagte Arrel. „Doch die Seele von Noxus ist noch die gleiche. Komm mit uns und knie nieder. Oder stelle dich gegen uns und wir sorgen dafür, dass du hier deine letzte Ruhestätte findest.“
Teneff warf ihren Kameradinnen einen wütenden Blick zu, bevor sie sich wieder Riven zuwandte. „Akzeptiere das neue Noxus, unterwirf dich dem Imperium, erneuere deinen Eid und man wird deine Stärke zu schätzen wissen. Ich weiß, dass all das noch in dir steckt, Riven. Es ist noch nicht zu spät für dich.“
Riven sah weg. Sie zögerte, weil sie etwas Wahres in ihren Worten hörte, das sie nicht wahrhaben wollte. Was wäre, wenn Noxus anders wäre? Gab es nach allem, was passiert war, dort noch ein Leben für sie? Und da das Imperium sie jetzt gefunden hatte, würde man je aufhören, sie zu suchen?
Riven sah jede einzelne ihrer Schwestern an, die ihre Mission hartnäckig verfolgten. Was würde sie tun müssen, um sie aufzuhalten? Und falls ihre Schwestern keinen Erfolg hatten, würde Noxus einfach noch mehr Soldaten schicken. Wie viele unschuldige Leben würden enden, bevor man sie schließlich doch von hier fortriss?
Der wie Unheil aufziehende Gehorsam machte ihr das Herz schwer. Geh mit ihnen, sagte es. Sorg dafür, dass kein ionisches Blut mehr wegen dir vergossen wird. Dass kein Mensch mehr wegen deiner Seele vor seiner Zeit aus dem Leben scheidet.
Menschen wie Asa. Dein Väterchen.
„Riven! Komm sofort raus!“
Die vier Frauen zuckten beim Klang der Stimme zusammen, die sie vor das Farmhaus rief. Riven stand auf, gefolgt von den Jägerinnen, deren Körper sich anspannten.
„Was ist da los?“, fragte sie.
Teneff warf Arrel und Marit einen Blick zu und sah dann wieder zu Riven. „Finden wir’s heraus“.
Erath sah, wie Riven das Farmhaus verließ, flankiert von den Jägerinnen. Sie traten ins Tageslicht und fanden ihn und Tifalenji mit gezogenen Waffen vor ihnen stehend vor. Der Ionier, den Erath entdeckt hatte, kniete zwischen ihnen.
„Dyeda“, sagte Asa, nach Luft ringend.
„Väterchen!“ Riven wollte schon zu ihm laufen, als Tifalenji ihr Runenschwert an die Kehle des Mannes hielt und ihr somit Einhalt gebot. „Lasst ihn frei“, forderte sie. „Er hat hiermit nichts zu tun!“
„Dein Schwindel hat ihn da mit reingezogen.“ Tifalenjis Gesichtsausdruck war hart, ihre Augen kalt. „Nun können wir die Tränen des Wiedersehens hinter uns lassen und uns endlich der Wahrheit widmen.“
Erath sah Tifalenji an. Riven kniff die Augen zusammen. „Und die wäre?“
„Ich habe etwas, das du willst“, sagte die Runenschmiedin und deutete auf Asa. „Und du hast etwas, das ich brauche.“ Sie zeigte Riven die zerbrochenen Fragmente in ihrer anderen Hand. „Bring es mir.“
Riven zögerte. Ihren Augen schnellten zwischen Tifalenji und Asa hin und her.
„Ich werde deine Spielchen langsam leid“, sagte Tifalenji zischend und drückte ihr Schwert kräftig genug an Asas Kehle, dass Erath Blut heraustreten sah. „Ich bitte dich nicht und du weißt, wovon ich rede. Bring es mir, sofort … oder es wird hier noch einen Todesschrein geben.“
Der Augenblick zog sich in die Länge, während Riven Asa ansah. Erath bewahrte die Ruhe und musterte Riven sorgfältig. Er sah, wie sie ihre Zähne zusammenbiss und den Atem dazwischen hindurchstieß. Dann drehte sie sich langsam zum Farmhaus um.
„Sorgt dafür, dass sie nicht flieht“, befahl Tifalenji. Arrel deutete auf Eins und der Drachenhund sprang hinter das Farmhaus, während die anderen beiden die vorderen Ecken des Gebäudes bewachten.
„Was geht hier vor, Runenschmiedin?“, fragte Teneff. Sie sah Erath an. „Wer ist dieser Mann?“
„Ich hab ihn im –
„Sei still“, fuhr ihn Tifalenji an. „Das ist meine Angelegenheit.“
Riven tauchte wieder auf und trat mit einem in eine Decke gehüllten Gegenstand auf das Feld. Alle Augen ruhten darauf, besonders die von Tifalenji.
„Zeig es mir“, befahl die Runenschmiedin. „Sofort.“
Mit angespanntem Gesicht wickelte Riven die Decke langsam ab und ließ sie herunterfallen. Dabei enthüllte sie den Griff und die Parierstange eines enorm großen Breitschwerts. Wie ein abgebrochener Zahn ragte noch ein gezackter Teil der Klinge empor, auf dem die gleiche Runeninschrift graviert war, die Erath auf den gesammelten Fragmenten gesehen hatte.
„Verdammt seist du“, hauchte Tifalenji mit erschütterter Stimme, als sie das Schwert sah. Ihre Finger schlangen sich fester um die Schwertfragmente. „Hast du auch nur die leiseste Ahnung, was du angerichtet hast?“
„Dieses Schwert wurde mir anvertraut“, sagte Riven. Ihre schlanken Finger schlossen sich fester um den lederumwickelten Griff. „Ich bin dafür verantwortlich, niemand sonst. Lasst ihn gehen.“
„Es hätte niemals dir gehören sollen“, sagte Tifalenji zischend. „Dieser Fehler wurde lange genug nicht korrigiert, bis jetzt. Gib es mir, sofort.“
Während Riven das Schwert hielt, wirkte sie stärker, auch wenn es zerbrochen war. Erath konnte sehen, wie sich Widerstand in ihr aufbaute.
„Du darfst es nicht bekommen“, sagte Riven. „Diese Waffe wird niemals zu denen zurückkehren, die sie geschmiedet haben. Das werde ich nicht zulassen.“
„Dann wird er sterben“, sagte Tifalenji trocken. „Und du auch. Selbst so geschändet, wie es ist, ist dieses Schwert wichtig. Du bist nur ein Schmarotzer, der am Glanz des Schwertes festhält, um einer gebrochenen, wertlosen Existenz Bedeutung zu verleihen.“
„Also ging es hier nie um mich.“ Riven sah die Jägerinnen vorwurfsvoll an. „Oder?“
Erath starrte Tifalenji an. Waren sie wirklich nur wegen des Schwertes hier?
„Du hast dein Leben in dem Moment aufgegeben, als du dich gegen meine Meister gewandt hast und das Schwert nicht mehr seinem Zweck diente“, sagte Tifalenji, vor Wut schäumend. „In diesem Moment des Verrats bist du gestorben, Riven. Ich bin nur hier, um das zurückzuholen, was uns gehört.“
„Willst du sie töten?“ Teneff trat vor, die Ketten an ihrem Haken klapperten. „Das war aber nicht ausgemacht, Runenschmiedin.“
Mit einer Geste von Arrel eilte ihr Hundetrio zu ihr und stellte sich knurrend um sie auf.
„Du widersetzt dich mir jetzt?“, sagte Tifalenji spöttisch. „Ihr seid desertiert, Soldatinnen. Kehrt ohne meinen Schutz nach Noxus zurück und ihr werdet hingerichtet – oder tut, was ich sage, und überlebt. Eine andere Alternative gibt es nicht.“
„Sie hat recht.“
Teneff und Arrel drehten sich um und starrten Marit an, die zur Tür des Farmhauses ging und ihre Gleve wieder holte. Riven sah zu, wie sie an ihr vorbeiging, um sich schließlich an Tifalenjis Seite zu stellen.
„Runenhexe“, sagte Marit. „Du hast mir ein Schwert versprochen, wenn das hier vorbei ist. Aber ich werde langsam ungeduldig, daher werde ich mir einfach Rivens nehmen.“
„Dann zeige, dass du seiner würdig bist“, sagte Tifalenji. „Erledige sie und nimm es ihr aus der Hand, dann soll es dir gehören.“
„Marit, hör mich an“, sagte Teneff flehend. „Das dürfen wir nicht tun. Wir waren uns einig, dass sie nach Noxus zurückkehren muss, um Gerechtigkeit zu erfahren.“
„Ich werde Noxus’ Gerechtigkeit sein!“, blaffte Marit und zielte mit ihrer Gleve auf Riven. „Diese Schwert sollte immer schon mir gehören, du warst nie stark genug, um damit das zu tun, was getan werden muss. Wenn es neu geschmiedet und von mir geschwungen wird, werde ich meine Sternstunde erleben – mein Name und meine Herkunft werden nicht im Dunkel vergessen sterben. Alles, was mir genommen wurde, wird wieder aufgebaut, zurückgewonnen mit dieser Klinge!“
Erath musterte die beiden Frauen und beobachtete das Spiel der Sonne auf Marits Gleve.
„Sieh dich nur an.“ Marit spuckte vor Riven auf den Boden. „Ein kaputtes Schwert für eine gebrochene Frau. Könntest du es jetzt überhaupt hochheben?“
Tifalenji schrie, als die Fragmente davonflogen und eine blutige Hand zurückließen. Sie schossen wie glänzende Smaragde durch die Luft auf Riven zu. Die zerbrochenen Fragmente verflochten sich über ihr, setzten sich zusammen, vereint durch Runenenergie zu einem immensen, gespaltenen Gebilde.
„Heb’s mal hoch.“ Riven ließ das riesige Schwert durch die Luft sausen und wirbelte dabei Staub und Kies auf. „Oh ja, Schwester. Ich kann es noch hochheben.“
Marits furchterregendes Gesicht verzog sich zu einem Lächeln, als sie Kampfhaltung einnahm. „Mein ganzes Leben wurde mir genommen und du hast deins einfach weggeworfen. Also komm schon! Das Blut, das wir vergossen haben, um dich zu finden … Das schuldest du mir, Riv!“
Teneff ging mit Arrel an ihrer Seite einen Schritt auf Tifalenji zu. „Wehe, ihr mischt euch ein“, sagte die Runenschmiedin zischend und hob ihr Schwert. Sie warf Erath einen Blick zu und deutete auf den alten Mann. „Halte ihn fest.“
Erath packte den Ionier an der Schulter, seinen Malchus in der anderen Hand. Er versuchte, sowohl darauf zu achten, dass der alte Mann nicht die Flucht ergriff, und auf den erschreckenden Bruch, der sich zwischen Teneff, Arrel und Tifalenji auftat.
Was wäre, wenn er eine Seite wählen müsste?
Eraths Gedanken rasten angesichts dieser Möglichkeit. Welche Seite würde er wählen? Marits Wiederherstellung des Ansehens oder Verrat? Teneffs unentwegtes Pflichtbewusstsein gegenüber dem Imperium? Oder die Sicherheit von Tifalenjis Autorität, trotz ihrer Geheimnisse?
Würden jene, gegen die er sich stellen müsste, ihn zu töten versuchen? Könnte er sie töten?
All diese Gedanken schossen durch seinen Kopf, während der Konflikt sich vor ihm abzeichnete. Doch Erath konnte seine Augen einfach nicht von Rivens unglaublichem Schwert abwenden.
„Marit, Schwester, tu das nicht“, sagte Riven mit zusammengebissenen Zähnen. „Sorg nicht dafür, dass ich dich töten muss.“
Marit schwang ihre Gleve herum. „Keine Angst, Riven. Das wirst du nicht.“
Die beiden begannen, einander zu umkreisen. Erath fielen die unterschiedlichen Haltungen auf: Marit war mobil und aggressiv, Riven stoisch und reserviert. Ihre Waffen waren zwischen ihnen, zuckten umher und beschrieben kleine Kreise, berührten einander jedoch nie …
… bis Marit endlich zuschlug.
Sie spürte eine Gelegenheit und sprang vorwärts, ihre Waffe wirkte wie ein verschwommener Sturm aus Stahl. Riven ruderte zurück und nutzte die Länge und Breite ihres Schwertes, um die Serie an Hieben unter Schauern aus Funken und smaragdfarbener Runenenergie abzuwehren. Marit machte einen Schritt zur Seite, wandte den Griff ihrer Gleve gegen Rivens Schwert, um es beiseite zu stoßen, und stieß nach Rivens Kehle.
Riven schrie auf, schwang ihr Schwert in einem Bogen und entfesselte einen Sturm aus Hieben, die Marit wegschleuderten. Marit schlitterte zurück und grub sich mit der freien Hand in den Boden, um sich zu bremsen.
„Wie putzig“, sagte sie grinsend. Sie richtete sich auf und setzte erneut zum Angriff an.
Während sie kämpften, bemerkte Erath, dass Rivens vermeintlich defensive Haltung sich veränderte. In ihr war etwas erwacht, der Geist einer Kriegerin, der sie einst zu einem der tödlichsten Soldaten von Noxus gemacht hatte. Schlag um Schlag, Hieb um Hieb kämpfte sie sich nach jeder Parade in die Offensive. Langsam sah Erath auch, wie etwas in ihrem Gesichtsausdruck sich veränderte und die Ruhe ersetzte.
Er sah Zorn.
Riven ging zum Angriff über. Ihre Runenklinge zischte und surrte, als sie Marits Verteidigung mit Hieben und Schlägen zu umgehen suchte. Marits vernarbtes Gesicht war vor Konzentration verzogen. Sie setzte all ihr unglaubliches Können ein, um Rivens Angriff abzuwehren – doch jeder Konter wurde beiseite gewischt, jeder Versuch, Rivens Abwehr zu durchbrechen, zurückgestoßen.
Zum ersten Mal dachte Erath darüber nach, dass Marit verlieren konnte. Im Schatten eines riesigen Baumes mit Blättern so rot wie Blut war Riven drauf und dran, zu gewinnen.
Die beiden troffen vor Schweiß. Marits Bewegungen verloren ihre Anmut, je mehr sich Erschöpfung mit einem Anflug von Verzweiflung breitmachte. Marit wurde schwächer, doch Riven nur stärker und ihre Augen glühten, während sie immer stärkere Hiebe gegen ihre Kontrahentin darbrachte. Sie hatte Marit bereits gegen den Baum gedrängt, als sie ihr Schwert zu einem Schlag über den Kopf erhob. Marit hob den Griff ihrer Gleve, den Riven prompt in zwei Teile zerschlug.
„Du entkommst niemals dem, was dich zerbrochen hat, Riven,“ sagte Marit mit einem kalten Lächeln und warf die untere Hälfte ihrer Waffe weg. „Egal, wohin du gehst, dieser Dämon wird immer bei dir sein.“
Marit holte mit ihrer kaputten Gleve aus. Riven brüllte und stieß ihr Schwert nach vorn. Blut quoll an der Spitze ihres Schwerts hervor, spritzte auf und zerbarst zu einem Nebel, als es auf die Runen traf. Sie stieß das Schwert durch Marit hindurch und spießte sie an den Baum.
Plötzlich weiteten sich Rivens Augen. Sie zog ihr Schwert zurück. Marit sank langsam zu Boden. Sie hielt sich die Brust, konnte dem zwischen ihren Fingern hervorströmende Blut jedoch keine Einhalt gebieten.
Langsam verschwand der Zorn aus Rivens Gesicht, als sie Marit ansah. Der Griff um ihr Schwert lockerte sich. „Schwester, vergib mir.“
Marit starrte Riven über ihr an. Blut lief ihr aus dem Mund. Sie wurde schwächer, nutzte jedoch ihr letztes bisschen Kraft, um Riven am Kragen zu packen, sie zu sich zu ziehen und ihr tief in die Augen zu blicken.
„Nein“, zischte Marit sie an. Die Verachtung, mit der sie dieses Wort aussprach, kostete sie auch das letzte Quäntchen Lebenskraft und sie sank in den Dreck.
Stille legte sich über die Szenerie. Ein Schockgefühl machte sich in allen breit und traf Erath besonders hart. Marit war für ihn immer unverwundbar gewesen, hatte sie doch den Chemieangriff überlebt, der sie entstellt hatte, und in jedem Kampf auf ihrer Reise triumphiert. Er konnte einfach nicht fassen, dass er soeben ihren Untergang erlebt hatte.
Und wofür?, dachte er. Was soll das hier eigentlich?
„Bedauerlich“, sagte Tifalenji, „aber nicht unerwartet.“
Riven zuckte zusammen, als ihr das Schwert aus der erschöpften Hand gerissen und sie herumgewirbelt wurde. Jetzt hielt es die Runenschmiedin, deren eigene Runenklinge in der anderen Hand lag.
„Auf dem Weg hierher, während all der Strapazen hab ich hin und her überlegt, ob ich dich am Leben lassen soll, wenn ich das zurückgeholt habe, was uns gehört. Aber nach all dem …“, Sie umfasste Rivens Schwert fester. „… Frevel kann ich erst hier fortgehen, wenn dein Herz nicht mehr schlägt.“
„Das reicht!“, schrie Teneff auf und ging zusammen mit Arrel auf Tifalenji zu. Asa heulte bei diesem Anblick auf und versuchte, sich aus Eraths Griff zu befreien.
Die Runenschmiedin kreuzte ihre Klingen und schwang sie in einem Bogen. Der Energiewirbel warf die Jägerinnen zu Boden. Arrels Hunde bellten und liefen los, um ihre Meisterin zu verteidigen. Tifalenji sprach einen Vers und die Drei blieben in der Luft hängen, gefangen in Kapseln aus Runenenergie. Erath sah, wie sich diese Szene vor ihm abspielte, während sein Herz immer heftiger in der Brust schlug und Schweiß den Griff um seinen Malchus zunehmend schwieriger machte.
„Glaubt ihr wirklich, ihr könnt das noch aufhalten?“, erklang donnernd Tifalenjis Stimme. „Nichts kann mich aufhalten! Ich werde jeden einzelnen von euch töten und heute Nacht friedlich schlafen, denn ich bin die Gerechtigkeit und ihr alle seid –“
Plötzlich wich jegliche Luft aus Tifalenjis Lungen und eine Schwertspitze erschien in ihrer Brust. Einen Augenblick lang hing die Runenschmiedin in der Luft, als würde sie nichts wiegen, dann sackte sie nach unten. Die beiden Runenklingen entglitten leblosen Fingern und der blutige Malchus hielt sie noch eine Sekunde lang in der Luft, bevor er ihrem Körper entzogen wurde und dieser hinunterfiel. Erath kam dahinter zum Vorschein.
Die Drachenhunde fielen benommen, aber unverletzt zu Boden. Arrel und Teneff kamen mühsam wieder auf die Beine und starrten Erath überrascht an, als würden sie ihn zum ersten Mal sehen.
„Kein Verrat mehr“, flüsterte Erath. „Keine Geheimnisse mehr. Nach allem, was wir durchgemacht haben, was infrage gestellt und eine weitere Wendung erfahren musste, ist Ehre die einzige Konstante. Unsere Pflicht Noxus gegenüber.“
Teneff machte einen Schritt nach vorn. Riven beobachtete, wie sie sich bückte und beide Runenklingen aufhob. Rivens Schwert war erneut in Einzelteile zerbrochen, die überall verstreut herumlagen. Arrel sammelte sie ein. Dann standen beide Jägerinnen vor Riven.
„Er hat recht“, sagte Teneff. Sie sah Riven an. In ihrem Blick lagen weder Rache noch Hass, nur grimmige Entschlossenheit. „Ehre ist alles, was wir noch haben. Ich habe Noxus einen Eid geschworen, dass du Gerechtigkeit erfahren wirst, Schwester. Dafür werde ich sorgen.“
„Lass uns doch einfach in Ruhe“, sagte Asa krächzend mit tränenüberströmtem Gesicht. „Du musst sie nicht mitnehmen.“
Erath sah die Jägerinnen an, dann Riven. Sollte hier noch mehr Blut vergossen werden, bevor es endlich ein Ende fand?
„Ich gehe mit.“
„Dyeda, nein …“, flehte Asa sie an. Er wirkte verstört, als er diese Worte aus Rivens Mund hörte.
Riven atmete schaudernd aus. „Es reicht, Väterchen – niemand soll mehr wegen mir leiden. Wir sind für unser Handeln verantwortlich, für die Entscheidungen, die unser Herz trifft.“ Sie sah ihn an. „Und das ist meine Entscheidung.“
Asa öffnete den Mund und schloss ihn dann wieder. Sein Atem ging zitternd, als er sich aufrichtete. „Wo du auch hingehst, was du auch tust, du wirst auf ewig meine Dyeda sein. Auf ewig.“
„Du wirst auf ewig hier drin sein, Väterchen“, sagte Riven mit der Hand auf ihrem Herzen. Sie sah zu Teneff auf. „Lass ihn ziehen und ich werde mit dir gehen.“
Teneff blieb einen Augenblick lang regungslos stehen und neigte ihren Kopf dann ein kleines Stückchen. „Du hast mein Wort.“ Sie nickte dem Klingenknappen Erath zu, der Asa sofort freiließ.
Der Ionier stand mit zitternden Beinen auf. Auf einen kurzen Blick von Riven hin senkte er den Kopf und stolperte dann zurück zum Farmhaus. Asa ließ sich an den Türpfosten herabsinken, sein Körper gebeutelt von Schluchzern, als er mit ansah, wie Teneff Riven in Ketten legte.
Plötzlich fielen Erath die Tiere ein. Er wirbelte herum und sah erleichtert, dass Talz noch an seinem Platz angebunden war und unbekümmert am Gras nagte.
Lady Henrietta hingegen hatte sich von ihren Zügeln befreit.
Panik stieg in Erath auf, bis er sah, dass sie nicht weit gekommen war. Er fand das Reptil im Schatten des Baumes, unter dem Marits lebloser Körper lag, wo es versuchte, sein Frauchen mit sanftem Stupsen aufzuwecken. Langsam und vorsichtig näherte er sich den beiden.
Henrietta zischte Erath an, bleckte ihre Zähne und stellte sich zwischen ihn und Marits Körper, als er die Hand ausstreckte.
„Ich weiß“, flüsterte Erath und streichelte sanft Henriettas Hals. „Ich weiß.“
Henrietta zischte noch einmal, wenn auch leiser. Erath griff nach ihren Zügeln. Das Tier wich nicht zurück.
Schließlich stellte Arrel endlich die Frage, die ihnen allen im Kopf herumschwirrte. „Wie soll das hier enden? Die Runenschmiedin ist tot, ihr Mandat ist für uns nichts mehr wert.“
„Sie ist auf ihrer Expedition ums Leben gekommen.“ Teneff starrte Tifalenjis Leiche an. „Im Dienste des Imperiums. Wir haben in ihrem Namen weitergemacht und ihren Auftrag, eine Flüchtige zur Rechenschaft zu ziehen, abgeschlossen.“
„Das willst du ihnen sagen?“, fragte Arrel.
Teneff blieb regungslos. „Das ist die Wahrheit.“
„Nun dann“, sagte Arrel. „Du und der Klingenknappe haben wohl alles im Griff.“
Erath sah die Fährtenleserin an, als es ihm allmählich dämmerte. „Ihr kommt nicht mit.“
„Das hier war wichtig“, sagte Arrel kopfschüttelnd und gab Teneff die Fragmente von Rivens Klinge. „Aber jetzt ist es erledigt und ich diene Noxus allein besser.“
Langsam streckte Teneff ihre Hand aus. „Auf Wiedersehen, Schwester.“
Arrel sah die Hand einen Augenblick lang an, bevor sie sie am Handgelenk packte. „Auf Wiedersehen.“ Eine Geste von ihr genügte und die Hunde waren wieder an ihrer Seite, als sie auf den Feldweg einbog, der von der Farm wegführte.
„Jetzt sind nur noch wir beide über“, sagte Erath und sah zu, wie Arrel in der Ferne verschwand.
„Du kommst auch nicht mit“, sagte Teneff.
Erath starrte verwirrt erst sie, dann Riven an.
„Diese Pflicht ist jetzt allein meine“, sagte sie. „Meine Suche hat ein Ende, aber deine noch nicht.“ Sie deutete mit dem Kopf auf Lady Henrietta. „Und jetzt geh. Finde deinen Verräter.“
Erath konnte zunächst nichts sagen. Nachdem er Zeuge von Rivens Kraft geworden war, wollte er Teneff jetzt nicht mit ihr allein lassen, doch in seinem Herzen war ihm klar, dass es die richtige Wahl war. Und sie hatte recht, es gab noch etwas, das er hier erledigen musste.
Erath richtete sich auf und schlug sich stolz mit der Faust gegen die Brust. „Für Noxus.“
Teneff gab den Gruß zurück. „Für Noxus.“
Erath half Teneff, Marits Leiche nach den Bräuchen ihrer Familie einzuhüllen und auf Talz zu hieven, bevor er seine eigenen Sachen zusammensuchte. „Werde groß und stark, Talz“, sagte er und tätschelte Talz’ Flanke. „Sorg dafür, dass Ten nicht in Schwierigkeiten gerät.“
Der Basilisk schwang seinen Kopf spielerisch herum und fegte Erath beinahe von den Füßen. Er lächelte und spürte, wie seine Augen brannten. Er drehte sich weg, um eine Träne mit seinem Daumen fortzuwischen, und wandte sich dann Lady Henrietta zu.
Zentimeter um Zentimeter bewegte er sich auf sie zu und sah vor seinem inneren Augen all die Personen, die Lady Henrietta in seinem Beisein getötet hatte. Er dachte an jedes wütende Kreischen des Reptils, an jeden erstickten Schrei aus den Kehlen ihrer Opfer. An jeden Tropfen Blut und jeden Fetzen Fleisch, die er aus ihrem Schmuck geklaubt hatte. Leise summend näherte er sich, streckte die Hand aus und ließ sie schließlich sanft über ihre schuppige Haut gleiten. Sie zuckte zusammen, wich jedoch nicht vor ihm zurück. Ermutigt fasste Erath nach ihren Zügeln und kletterte schon einen Moment später in den Sattel auf Lady Henriettas Rücken.
Sie akzeptierte ihn.
Riven und Teneff sahen zu, wie Erath den Feldweg entlang ritt. Rivens Handschellen klirrten und ihr wurde bewusst, dass sie bereits zum zweiten Mal in Ketten von der Farm geführt wurde. Sie erinnerte sich noch, wie sie sich damals gefühlt hatte: an die Angst und Panik, die sie überkommen hatten und dann abgeflaut waren. So würde es nicht noch einmal sein. Dieses Mal war anders, dieses Mal war sie anders.
Teneff wandte sich Riven zu. „Du bist meine Gefangene, aber auch meine Schwester. Ich werde dich mit dem nötigen Respekt behandeln. Bist du so weit?“
Riven atmete hörbar aus, warf Asa und dem Zuhause, das sie nie wiedersehen würde, einen letzten Blick zu und nickte dann. „Ja.“
„Gut.“ Teneff half Riven auf Talz’ Rücken und ließ ihren Blick auf den langen Weg vor ihnen fallen. „Auf nach Noxus.“
Erath ritt durch die Nacht. Nach den Anstrengungen, Riven ausschließlich zu Fuß zu suchen, berauschte ihn das Tempo förmlich, mit dem er auf Lady Henriettas Rücken Boden gutmachte. Wäre er in anderer Absicht unterwegs gewesen, hätte er sich der Freude hingegeben, auf ihr zu reiten. Doch so war ihm das Herz schwer und lag wie ein Stein in seiner Brust, während die Entfernung zu seinem Ziel dahinschmolz.
Der natürliche Palisadenzaun öffnete sich nicht für ihn. Erath zog seinen Malchus und schlug ihn gegen seine Rüstung.
„Ich bin Jobins Sohn!“, brüllte er. „Zeige er sich oder tretet ihr beiseite, sodass ich ihn stellen kann!“
Nach einigen Momenten der Stille öffnete sich die Barriere weit genug, um ihm Einlass zu gewähren. Während er ins Dorf stapfte, spürte er die ängstlichen Blicke von Ioniern und abtrünnigen Noxianern auf ihm lasten.
„Jobin!“, rief Erath. „Vater, zeig dich!“
„Friede!“ Ein Ältester löste sich aus der Menge. Erath erkannte ihn. Es war der alte Mann, der am Schlachtfeld des chemischen Angriffs Wache gehalten hatte. „Finde Frieden, mein Kind. Ich werde dich zu ihm bringen.“
Erath stieß einen Seufzer aus, steckte seinen Malchus weg und stieg von Lady Henrietta ab. Der Älteste führte Erath zu Jobins Hütte und trat mit ihm gemeinsam ein. Ionier versammelten sich in Stück weit von Henrietta entfernt und sangen beruhigende Melodien. Henrietta spuckte sie an.
In der Hütte war es dunkel. Der Ionier entzündete einige Kerzen, die eben genug Licht boten, dass Erath den in einen Schleier gehüllten Umriss im Zentrum des Raumes erkennen konnte.
„Dein Vater“, sagte der Älteste.
Erath atmete tief ein. Er kniete nieder und versuchte, das Zittern seiner Hände zu unterdrücken, als er den Schleier zurückzog und das blasse, kalte Gesicht seines Vaters enthüllte. Es war seltsam verfärbt und von Narben und Blutergüssen übersät.
„Warum bist du zurückgekehrt?“, fragte der Ionier.
„Ich bin hier“, sagte Erath mit zitternder Stimme, „weil ich hören wollte, weshalb er mich und meine Kameraden an die Bruderschaft verraten hatte.“
„Verraten?“ Traurigkeit machte sich auf dem Gesicht des Ältesten breit. „Aber mein Kind, das hat er gar nicht.“
Eraths Blick fiel auf die Wunden. Er musterte jeden Bluterguss, folgte dem Verlauf jeder Schnittwunde.
„Die Bruderschaft kam hier kurz nach eurer Abreise an“, erklärte der Ionier. „Sie forderten uns auf, eure Route preiszugeben. Dein Vater bot ihnen die Stirn und wurde dafür gefoltert. Sie nahmen ihm das Leben.“
Erath hörte die Worte kaum. Er konnte nicht atmen. Emotionen übermannten ihn. Seine Reise. Der Kampf für seinen Stamm, der ihm versagt blieb, die Strapazen, die er auf sich nahm, um anderswo seinen Platz im Leben zu finden. Die Entdeckung der eigenen zerrütteten Familie. Die auseinandergerissen und wieder zusammengeführt wird.
Er berührte das Gesicht seines Vaters. Eine Träne tropfte auf Jobins Wange. Die Last auf Eraths Brust verschwand, Wärme löste den Stein in seiner Brust auf.
„Du könntest bleiben“, schlug der Älteste vorsichtig vor. „Wir würden Jobins Sohn willkommen heißen. Gemeinsam auf das nächste Seelenblumenfest warten.“
„Nein“, sagte Erath und schüttelte den Kopf. „Bei mir wird sein Geist Frieden finden.“
Der Ionier trat einen Schritt zurück und neigte verständnisvoll den Kopf nach vorn.
„Hilf mir, ihn einzuhüllen“, sagte Erath und nahm den Schleier. „Ich nehme ihn mit.“
„Wohin bringst du ihn?“, fragte der Älteste.
Erath sah den Ionier an und lächelte. „Nach Hause.“Referenzen[]
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