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Noxus Schwesternschaft des Krieges 01
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Ionia Tip

Kurzgeschichte

Schwesternschaft des Krieges - Teil 1: Alte Wunden

Von Ian St. Martin

“Hast du verstanden, was du gerade gehört hast?”


Geschichte[]

„Hast du verstanden, was du gerade gehört hast?“

Tifalenji kniete in der Dunkelheit. Ihr Blick blieb gesenkt, als die Stimme sie ansprach, denn die Stimme war Teil der Dunkelheit. Sie war Teil der Kammer, Teil dieser brütenden Wärme und dieses widerlich süßen Dufts, der an verfaulende Blumen erinnerte. Für jemanden, der sich dem Wirken und Walten der Runen verschrieben hatte, war eine derartige Situation kaum der Rede wert – selbst eine so junge Schmiedin wie Tifalenji hinterfragte nicht, was sie umgab.

Sie wusste, wann sie etwas hinnehmen musste, das sich ihrem Verständnis entzog.

„Ja, das habe ich“, antwortete sie.

„Ausgezeichnet“,

rasselte es aus der Dunkelheit, als würde die Finsternis Luft holen. „Deine Meisterin hatte nur Lob für dich übrig. Du seist einfallsreich.“ Dieses letzte Wort schien von einer anderen Stimme zu stammen, der Stimme von Tifalenjis Lehrmeisterin. „Und wer einfallsreich ist, kann von großem Nutzen sein.“

Tifalenji schluckte. Sie spürte, wie Luft verdrängt wurde; wie die Temperatur stieg, als wäre die Kammer auf einmal voller Menschen. Zögernd sah sie sich aus den Augenwinkeln um und sah den Kleidersaum verhüllter Gestalten, die an den Wänden um sie und die Stimme herum aufgereiht waren.

„Schau zum Mond.“ Auf einmal blitzte Licht auf, das sich kalt und silbern auf dem Boden widerspiegelte. „Schau, wie er sich bewegt, wie er sich dreht.“

Ihr Verstand überschlug sich beim Gedanken an das, was vor ihr lag. Die Augenblicke, die ihr noch blieben, stürzten einer nach dem anderen an ihrem geistigen Auge vorbei, als wären sie Sandkörner in einem Stundenglas.

„Denk vor allem an deine Aufgabe.“ Eine Hand streckte sich ihr aus der Dunkelheit entgegen und umschloss Tifalenjis Kinn. „Was du für uns suchen sollst, was du uns zurückbringen sollst, ist unersetzlich.“ Die Hand hob Tifalenjis Kopf an und sie sah in das perfekte Ebenbild ihres eigenen Gesichts, das vom Grinsen einer anderen Person verzerrt wurde.

„Ganz im Gegensatz zu dir.“

Erath war ein Sohn von Noxus Tip Noxus. Er gehörte der ersten Generation seines Stammes an, die im Imperium geboren worden war, und so hatte seine Ausbildung unmittelbar an dem Tag begonnen, an dem er seine ersten Schritte gemacht hatte.

Standhaftigkeit. Disziplin. Entschlossenheit.

Er war unter Hirten aufgezogen worden und hatte sich um Nutzvieh und Lasttiere gekümmert, damit sie zur Erntezeit wohlgenährt und kräftig waren. Er hatte gelernt, wie man schnell und sauber mit einem kleinen Messer töten konnte, und dass er dieses Messer stets bei sich zu haben hatte. An jenem Tag, als Noxus ihn einberufen hatte, hatte sich diese Lektion als äußerst nützlich erwiesen.

Nach seiner Einberufung hatte man ihm beigebracht, wie er seine Feinde – die Feinde seines Imperiums – töten konnte, aber hassen sollte er sie dennoch nicht. Denn ein Feind des Imperiums war stets nur eine einzige Zeremonie davon entfernt, lediglich ein verirrter Bruder oder eine auf Abwege geratene Schwester zu sein, der oder die mit Ehre und Überzeugung in die offenen Arme von Noxus aufgenommen werden würde, um neben Erath zu dienen. Um ihn stärker zu machen.

Töte sie, bis sie Teil deiner Familie werden, hatte sein Vater ihm einmal gesagt, als er Erath die matten, lilafarbenen Narben aus seinen Feldzügen gezeigt hatte. Erath hatte seine Feinde nie gehasst, aber jetzt, als er sich hier umblickte, bemitleidete er sie, obwohl er nicht einmal wusste, wer sie waren.

Die Straßen bebten unter einem endlosen Marsch aus zehntausenden Soldaten, die durch die unsterbliche Bastion zogen. Unzählige Stimmen vermischten sich im Rhythmus von Kampfgesängen, Marschrufen und Kriegsliedern, wie es sie schon seit Urzeiten gab. Hier wurde die ganze ungezügelte Macht des noxianischen Heeres zur Schau gestellt, hier blitzten Klingen in den Händen von Soldaten aus allen Ecken dieses gewaltigen Imperiums auf. Kriegsbanden der Stämme stolzierten in Fellen und Zeremonialgewändern durch die Straßen, dicht gefolgt von straff geordneten Truppenkohorten in ihren geschwärzten Eisenpanzern und einem Kontingent aus shurimanischen Marinesoldaten in hellen Uniformen.

Und nach ihnen kamen noch mehr Krieger. Und noch mehr. Und noch mehr.

Zahllose Menschen, vereint in einem Imperium. Dieses Spektakel, diese schiere Machtdemonstration, ließ das Herz von Erath einen Moment stillstehen.

Eraths Stamm ging gerade aus einem Flussschiff an Land, mit dem sie von den Ebenen Dalamors im Süden in die Hauptstadt gereist waren. Noch beim Rudern hatte der Anblick der unsterblichen Bastion ihm und seinen Kameraden den Atem geraubt. Der himmelhohe Monolith aus uraltem Gestein im Zentrum der Stadt war schon zwei Tage vor ihrer Ankunft am Horizont erschienen. Er wandte den Blick von seinem Häuptling Yhavi ab, der sich gerade mit einer Gruppe Quartiermeister stritt, um dieses immense Steingebilde ein weiteres Mal zu bewundern – dieses Mal aus dem Inneren der Stadt. Die Sonne war einem strahlenden Juwel gleich hinter dem Trio aus gewaltigen Türmen im Herzen der Bastion gefangen.

Erath drängte sich wieder der Gedanke an ihren unbekannten Feind auf und er lächelte. Wer sollte dieser Streitmacht trotzen?

Donnis, einer der Speerträger, riss Erath mit einem leichten Stoß aus seinen Gedanken und nickte zum Häuptling, der Erath herbeiwinkte. Er beeilte sich und ging zu Yhavi, dem man gerade das Pergament mit ihren Befehlen übergeben hatte.

„Wir marschieren bald“, begann Yhavi in ihrer Stammessprache, während seine Augen über den Auftrag huschten.

Die eigene Aufregung ging mit Erath durch und er fragte: „Haben sie schon gesagt, wo wir kämpfen werden?“

„Nein.“ Yhavi schaute mit finsterem, zusammengekniffenem Blick auf das noxianische Schriftstück und dann zu Erath. „Aber für dich spielt das auch keine Rolle. Du wirst uns nicht begleiten.“

„Das verstehe ich nicht.“ Erath nahm denselben düsteren Gesichtsausdruck wie der Häuptling an. „Ich sollte doch dein Klingenknappe sein.“ Erath hatte diese Ehre in einer Blutprüfung errungen, bevor der Stamm sein Zuhause verlassen hatte. Damit hatte Erath das Recht gewonnen, die Kriegsausrüstung von Yhavi im Schlachtzug zu tragen und seine Reliktklinge am Vorabend der Schlacht zu schärfen und zu ölen. Er hätte seinem Häuptling die Waffe überreichen und die Wunden versorgen sollen. Und sollte der schlimmste Fall eintreten, hätte er die Pflicht haben sollen, sich um Yhavis Leichnam zu kümmern. Wenn nicht Erath, wer dann?

„Du wirst in der Tat ein Klingenknappe sein“, sagte Yhavi. „Aber nicht meiner. Deine Dienste wurden anderswo angefordert.“ Er spürte, wie verwirrt Erath war, und dann sagte er in härterem Tonfall: „Noxus will dich.

Erath richtete sich auf, verdrängte die Fragen aus seinem Kopf und zwang sich zu einem neutralen Gesichtsausdruck. Seine Faust schlug zum Salut fest gegen seine Brust. „Für das Imperium.“

Yhavi salutierte ebenfalls und neigte seinen Kopf in Anerkennung. „Wenn man uns ruft, dann kommen wir mit scharfer Klinge und scharfem Verstand.“

Erath nahm einen tiefen Atemzug und verbannte die Enttäuschung aus seinen Gedanken. „Ich bin bereit.“

Yhavis grimmige Fassade fiel und er zeigte dem Jungen ein warmes Grinsen. „Ich weiß, Erath. Und ich weiß auch, dass er voller Stolz wäre, wenn er dich heute sehen könnte.“ Erath schaute einen Moment lang zu Boden, bis Yhavi ihm eine kleine Schriftrolle gab. Sie war versiegelt und fest zusammengerollt. „Begib dich zum neunten Tor der Bastion auf der anderen Seite des Kanals dort vorn. Die Legionäre werden dich anhalten. Zeig ihnen das hier.“

Yhavi musste die Trifarianische Legion bloß erwähnen und schon stand Erath gerader. Er sah sich die Schriftrolle an. Das helle, gebleichte Papier bildete einen starken Kontrast zu dem rauen Pergament, das sein Häuptling in der Hand hielt. So ein Material hatte er noch nie gesehen. Es fühlte sich so zerbrechlich in seinen Fingern an.

„Anscheinend sieht das Schicksal einen ganz besonderen Weg für dich vor, Enhasyi“, sagte Yhavi und würdigte Erath mit dem Wort seines Stammes für einen Krieger, der bereit ist, seine Spuren auf dem Kriegspfad zu hinterlassen. Er legte eine Hand, die eher an eine vernarbte Tatze erinnerte, auf die Schulter von Erath, bevor er ihn davonschickte. „Schreite mit Stolz voran.“

Erath bahnte sich seinen Weg durch das rege Treiben einer Stadt, die sich auf einen Krieg vorbereitete. Für einen Jungen, der in einem einsamen Hirtendorf aufgewachsen ist, war die Größenordnung des Geschehens überwältigend. Massive Denkmale und Gebäude aus Stein, Eisen und Glas ragten über Straßen, die durch die Schritte von Armeen auf dem Weg zum nächsten Feldzug platt gelaufen waren. Erath ließ sich von diesem menschlichen Strom tragen. Die Leute gingen so dicht gedrängt, dass er seine Arme in der Menge kaum heben konnte. Er hätte sich niemals vorstellen können, dass es so viele Völker und so viele Sprachen gab. Der Trubel der Stadt lähmte ihn fast, doch der Gedanke an seine Pflicht trieb ihn voran.

Kaum ein Stammesangehöriger hatte die noxianische Sprache gelernt, doch Erath hatte passable Kenntnisse in Va-Noxianisch, der gesprochenen Einheitssprache, und die offizielle Schriftsprache des Imperiums war ihm zumindest nicht völlig fremd. Er beherrschte sie gut genug, um die Bedeutung der Schilder und Gravierungen auf seinem nicht allzu weiten Weg zum neunten Tor, wo sein neuer Kommandant auf ihn warten würde, zu erahnen.

Er warf sich das Bündel aus Sackleinen, in dem er seine Ausrüstung verstaut hatte, über die Schulter und wollte in sein Wams greifen. Dabei strich seine Hand über den Knochenanhänger, den er um den Hals trug. Einen Moment lang hielt er dort inne, bevor er nach den Befehlen griff, die auf dem fest zusammengerollten, gebleichten Papier geschrieben standen. Der Wert dieses winzigen Schriftstücks ließ seinen Verstand nicht ruhen. Wer mochte sein neuer Anführer sein und wie wichtig war die bevorstehende Mission? Er war so in Gedanken verloren, dass er gar nicht merkte, wie er auf den Hof am Tor und in den Schatten zweier emporragender Gestalten trat.

„Khosis g’vyar!“

Ein scharfes Eisenklirren ließ Erath innehalten. Er schaute vom Boden hoch und damit direkt auf die glänzenden Klingen von zwei Hellebarden, die größer waren als er und auf sein Herz zeigten. Die Waffen wurden von Hünen in geschwärzten Eisenpanzern gehalten, an deren Schultern Umhänge in der Farbe von frischem Blut wehten. Sie starrten teilnahmslos durch die Öffnungen ihrer Stachelhelme auf ihn herab.

Erath stockte der Atem. Trifarianische Legionäre. Dann sah er, dass das Tor nicht einmal versperrt war. Diese zwei noxianischen Elite-Krieger waren die Sperre.

Derselbe Ruf wie eben donnerte aus einem der beiden Legionäre hervor und wurde durch seinen Helm so verzerrt, dass er unmenschlich wirkte. Die Worte waren Erath nicht vertraut und noch dazu mit einem seltsamen Dialekt gesprochen.

War das Va-Noxianisch? Erath kniff die Augen zusammen und rief sich sein dürftiges Sprachwissen ins Gedächtnis. Der Krieger neigte den Kopf und räusperte sich. Es klang, als würde Geröll einen Hang hinunterrutschen.

„Wohin, kleine Klinge?“, polterte es etwas abgehackt aus dem Helm.

Erath atmete erleichtert aus, weil er die Worte endlich verstehen konnte. Doch wo auf sein Gehör Verlass war, ließ ihm seine Zunge im Stich. Wie ein nasser Lappen lag sie hinter seinen Zähnen und brachte kein anständiges Wort heraus. Er griff langsam in seinen Wams und zuckte zusammen, als er bemerkte, wie sich die Legionäre anspannten, doch es gelang ihm, die Schriftrolle hervorzuholen.

Die Krieger tauschen einen Blick aus und der, der mit ihm gesprochen hatte, schulterte seine Hellebarde. Er kam mit schweren, stampfenden Schritten auf Erath zu und blieb nur wenige Zentimeter vor dem Jungen stehen. Erath, der dem Legionär kaum bis zur Brust reichte, schaute zu ihm auf und hielt ihm seine Befehle hin.

Der Krieger pflückte die Schriftrolle aus seinen Händen. Das Papier sah in der dicken, durch einen Panzerhandschuh geschützten Hand geradezu lächerlich aus. Mit einem kurzen Druck zerquetschte er das Siegel in seiner Faust und so rollte sich die Schriftrolle in einem kleinen Regen aus roten Wachsteilchen auf. Nachdem der Legionär das Dokument gelesen hatte, machte er kehrt und hämmerte mit dem Griff seiner Hellebarde dreimal auf den polierten Steinboden. Jeder Einschlag hallte durch den dunklen Bogengang des Tors.

Nach wenigen Sekunden hörte Erath, wie sich leichtfüßige Schritte näherten. Eine verhüllte Gestalt tauchte aus der Dunkelheit des Tores auf. Ihre Gesichtszüge lagen im Schatten einer roten Kapuze verborgen. Die Frau kam vor dem Legionär zum Stehen und wirkte völlig unbeeindruckt von dem bedrohlichen Hünen, als sie die Schriftrolle entgegennahm.

„Du wirst mir folgen“, sagte sie zu Erath, ohne ihn auch nur eines Blickes zu würdigen. Sie drehte sich um und schritt über den Hof. Er eilte ihr hinterher und warf einen letzten Blick über seine Schulter, um zu sehen, wie der Legionär wieder den Platz neben seinem Kameraden einnahm.

Erath folgte der verhüllten Frau über einen weiteren Kanal immer tiefer in die geschäftige Stadt. Sie hielten sich an Seitenstraßen und gingen so den dicht gedrängten Truppenbewegungen und den Reihen von Kasernenzelten auf den Hauptwegen der Stadt aus dem Weg.

Schon bald erfüllten starke Düfte die Luft. Jeder Hirte oder Viehhüter erkannte den Geruch von Stroh, geschnittenem Gras und Mist. Er hörte Tierlaute, von denen er nur wenige wiedererkannte.

Die Frau und er traten aus einer engen Gasse heraus auf einen weit geöffneten Platz voller Leute, die sich um die Tiere kümmerten. Riesige Lasttiere grasten auf engem Raum. Männer und Frauen prüften Schafgehege oder zählten die Hühner in ihren Ställen. Auf Erath machte es den Eindruck, als sei dieser Ort vorher so etwas wie ein Park oder ein öffentlicher Garten gewesen, doch im Rahmen der großen Mobilisierung hatte man ihn umfunktioniert.

Ein behagliches und beruhigendes Gefühl der Vertrautheit erfüllte ihn, als sie vor einem Zelt am Rande des Platzes zum Stehen kamen. Die verhüllte Frau gab Erath die Schriftrolle zurück und zog die Zeltklappe zur Seite. Sie bedeutete ihm, einzutreten, und war verschwunden, sobald er der Aufforderung gefolgt war.

Die Luft im Zelt war kühl und von einer so starken Räuchernote durchzogen, dass seine Augen tränten. Er rümpfte die Nase und kniff die Augen zusammen, um mehr zu erkennen. Das einzige Licht kam von einer knienden Gestalt in der Mitte des Zelts, deren Hände einen Strang aus grün glühenden Runen um ein Schwert woben, das vor ihr in der Luft schwebte.

Erath schaute der Magie voller Faszination zu. Mit tänzerischer Eleganz brannte sich eine Rune nach der anderen in die Klinge des Schwerts. Er erinnerte sich daran, wie er als Kind den Schamanen seines Stammes zugesehen hatte, als diese bei ihren Ritualen Luft in Feuer verwandelt hatten. Er mied es, die Symbole direkt anzuschauen, denn selbst aus den Augenwinkeln jagten sie ihm schon einen Schauer über den Rücken. Die Frau drehte ihren Kopf leicht, als sich die letzte Rune auflöste, fing ihre Klinge auf und erhob sich in derselben Bewegung.

„Melde mich zum Dienst“, sagte Erath und salutierte. Er reichte ihr die Schriftrolle. „Meine Befehle.“

Die Frau ignorierte ihn. Sie bewegte sich wie in einer Trance und platzierte ihre Klinge auf einem Waffengestell. Sie entzündete eine Laterne in der Mitte des Zelts und tauchte sie beide in ein sanftes, bernsteinfarbenes Licht. Sie war hoch gewachsen und ihre dunkle Haut verriet, dass sie aus einer Region weit jenseits der nördlichen Kälte, in der Erath geboren war, stammte. Als sie ihn ansah, leuchtete in ihren Augen noch einmal dasselbe grüne Licht wie das der Runen auf.

„Schriftkundig?“

Erath zögerte. Ihr Va-Noxianisch war von einem trällernden, wohlklingenden Akzent geprägt, der sich stark von den barschen und kehligen Stimmen, die er bisher in der Hauptstadt vernommen hatte, unterschied. Die Augen der Frau wurden schmaler.

„Kannst du lesen?“, fragte sie noch einmal. Sie wirkte erschöpft oder gelangweilt; Erath wusste nicht recht, was von beidem es war.

Er nickte. „Ich kenne mich ein wenig mit der Schriftsprache aus, Herrin.“

„Hast du das hier gelesen?“, fragte sie und hielt die Schriftrolle hoch. Erst jetzt merkte Erath, dass er sie nicht mehr in den Händen hielt.

Er schüttelte mit dem Kopf. „Nein, Herrin.“

„Gut“, erwiderte sie scharf und verstaute die Papierrolle in ihrem Ärmel. „Ich bin Tifalenji und von diesem Moment an ist mein Wort für dich Gesetz. Lies, denk und tu, was ich sage, wenn ich es sage. Dann werden uns sehr viele Unannehmlichkeiten erspart bleiben. Verstanden?“

Erath salutierte erneut. „Jawohl, Herrin.“

„Sobald wir die Hauptstadt verlassen haben, wird nicht mehr salutiert.“ Tifalenji nahm ein Notizbuch vom Tisch und blätterte es durch.

„Dürfte ich eine Frage stellen, Herrin?“

Sie schaute auf. „Solange das nicht zur Angewohnheit wird.“

„Wie kann ich dienen?“, fragte Erath. „Welche Pflichten soll ich übernehmen?“

Tifalenji schloss das Buch mit einem Schnappen. „Ich brauche jemanden, der sich mit der Pflege und Haltung von jungen und ungestümen Tieren auskennt. Du kommst von den Ebenen von Dalamor, nicht wahr?“

„Ja, Herrin.“ Er kämpfte damit, seine Stimme nicht vor Zorn beben zu lassen. Er hatte seinen Vetter fast umbringen müssen, um in der Blutprüfung zu siegen und zum Knappen seines Häuptlings zu werden, und jetzt sollte er sich wieder um Vieh kümmern? „Ich war dort Hirte.“

Sie schenkte ihm ein schmales Lächeln und Erath hätte schwören können, dass er hinter sich gerade so in Hörweite ein Knurren vernahm. „Die Kreaturen, die hier in deine Obhut gegeben werden, sind möglicherweise etwas … exotischer.“

Die Klappe des Zeltes wurde in einem Wirbeln aus schnappender Leinwand aufgerissen. Erath drehte sich mit einer Hand auf dem Griff seines Messers um.

„Das würde ich nicht tun“, sagte Tifalenji, als Erath den Ursprung des Knurrens erblickte.

Vier Drachenhunde mit angespannten Muskeln, knochiger Panzerung und messerscharfen Krallen standen im Zelteingang. Erath hatte als Kind Geschichten davon gehört, wie Noxus dem Häuptling aller Häuptlinge mit einem Geschenk im Wert von drei Wagenladungen Silber gewürdigt hatte, als die Stämme der Ebenen Teil des Imperiums geworden waren. Dieses Geschenk war ein einziger Drachenhundwelpe gewesen. Er hatte noch nie einen aus der Nähe gesehen, ganz zu schweigen von einem Rudel.

Eine Frau in glänzender Kriegsrüstung stand hinter ihnen und schaute Erath mit grimmigem Blick durch ihre Panzermaske an. Ihre verblüffend scharlachroten Haare waren an ihrem Scheitel zusammengebunden und hingen wie eine Mähne an ihrem Rücken herunter. Die Hunde machten ihr Platz und postierten sich paarweise an ihrer Seite, als sie in das Zelt kam.

„Arrel.“ Tifalenji senkte ihren Kopf. „Du bist gut vorangekommen, Fährtenleserin.“

Erath bestaunte Arrel und konnte noch immer nicht begreifen, wie jemand vier Drachenhunde sein Eigen nennen konnte. „Seid Ihr eine Adlige, Herrin?“

Arrels Augen, kalt und grau wie ihre Rüstung, schweiften über Erath, bevor sie wieder zu Tifalenji schaute.

„Unser Klingenknappe“, sagte Tifalenji zu Arrel, bevor auch sie Erath einen Blick zuwarf. „Wir schicken keine Adligen nach Tokogol.“

„Die westliche Grenze“, sagte Erath. „Wie war es in Tokogol, Herrin?“

„Kalt“, murrte Arrel. Sie sprach leise, aber mit starkem Akzent.

Erath nickte. „Verstehe. Und Eure Reise hierher?“

„Lang.“ Arrel schaute wieder zu Tifalenji. „Redet es immer so viel?“

Erath stutzte. „Hat mein Verhalten Euch verärgert, Herrin?“

„Vier“, rief Arrel. Einer der Drachenhunde machte einen Satz nach vorn und stellte sich zwischen ihr und Erath auf. Jede Faser der muskelbepackten Kreatur versprühte Gewalt, die nur mühsam zurückgehalten wurde. Dünne Speichelfäden tropften aus der knochigen Maske herab und waren durch das Knurren von kleinen Schaumblasen durchzogen.

„Wenn du mich verärgert hättest, Klingenknappe,“, sagte Arrel, „dann hätte es dich dieser Hund spüren lassen. Und ich bin nicht deine Herrin.“

„Bitte verzeiht.“ Erath machte einen langsamen Schritt zurück. „Wie soll ich Euch dann ansprechen?“

„Überhaupt nicht, außer es ist unvermeidbar.“ Sie wirkte angespannt, als hätte das viele Reden ihren Hals gereizt. Sie machte eine knappe Handbewegung und beendete das Gespräch damit.

„Draußen ist ein Quartiermeister, der unsere Vorräte zusammenstellt“, sagte Tifalenji und überreichte Erath eine Bedarfsaufforderung. „Los, finde ihn.“

Erath atmete aus und ging vorsichtig an Arrel und den Hunden vorbei zum Ausgang des Zeltes. Als er ins Freie trat, hörte er, wie Arrel hinter ihm eine Frage stellte, deren Antwort er selbst gern kennen würde.

„Warum bin ich hier, Runenschmiedin?“

„Du hast wohl noch nie einen Basilisken gesehen, was, Junge?“

Erath hörte den Quartiermeister kaum. Die gewaltige, schwerfällige Kreatur vor ihm erforderte seine ganze Aufmerksamkeit. Der Basilisk war eine riesige Echse, deren grünes Fleisch so hart wie Eisen war. Erath hatte die Drachenhunde für muskulös gehalten, doch die Muskelstränge, die sich von den baumstammartigen Gliedern bis zum langen, dicken Schwanz dieses Wesens zogen, waren ein anderes Kaliber. Für Erath sah es so aus, als könnte es einen Mann zu Brei zertrampeln, ohne es auch nur zu bemerken.

„Um was für Tiere kümmerst du dich üblicherweise?“, fragte der Quartiermeister.

„Schafe“, antwortete Erath.

„Ah, keine Sorge.“ Der Quartiermeister klopfte Erath auf den Rücken. „Sieh ihn einfach als ein großes Schaf an. Er ist noch ein Baby, also wird er dir keine Probleme bereiten. Es dauert noch etwas, bis er zu einem richtigen Raufbold wird.“

„Das hier …“ Erath schaute den Mann an. „Das soll ein Baby sein?“

Der Quartiermeister gluckste. „Mit den Großen reißen wir Burgmauern ein, Junge.“

Erath schaute auf die Bedarfsanforderung, die ihm die Runenschmiedin gegeben hatte. Zum Glück war sie in einfachen Worten gehalten und enthielt vor allem Zahlen. Bei den Begriffen, die er nicht verstanden hatte, hatte ihm der Quartiermeister weiterhelfen können. Der Basilisk würde beinahe ein ganzes Lager auf seinem Rücken tragen, aber er sah aus, als könnte er weitaus mehr Ausrüstung und Vorräte tragen, als für drei Leute nötig wäre – selbst wenn man Arrels Drachenhunde berücksichtigte.

„Kommst du voran?“ Tifalenji erschien hinter Erath. Er stellte fest, dass sie nun eine Rüstung trug. Das mit Runen gravierte Schwert hing an ihrem Rücken und vor ihr auf dem Boden lag ein Rucksack aus Sackleinen.

„Wir statten ihn gerade aus“, erwiderte der Quartiermeister. „Bis auf die Trinkschläuche ist so gut wie alles bereit. Die sind als Nächstes dran und dann könnt Ihr direkt los.“

„Gut“, sagte die Runenschmiedin und schaute zur Sonne empor. „Wir schließen uns den Karawanen an, die durch den südlichen Eingang aufbrechen. Wir wollen noch vor Sonnenuntergang auf der Straße außerhalb der Stadt sein.“

„Auf der Straße?“, fragte Erath. Seit er in der Hauptstadt angekommen war, hatte Erath nur beobachtet, wie noxianische Armeen und Kriegstrupps – und auch sein eigener Stamm – über die Hafenanlagen auf großen Schiffen ausgelaufen sind. „Wir werden nicht gemeinsam mit den anderen über das Meer reisen?“

Die Runenschmieden schüttelte den Kopf. „Nein. Wir sind auf dem Kontinent noch nicht fertig. Aber vorher müssen wir noch jemanden finden.“

Sie ließen das organisierte Chaos der Hauptstadt hinter sich. Die himmelhohen Umrisse der unsterblichen Bastion hingen am Horizont, als sich Erath, Arrel und Tifalenji einer gewaltigen Prozession aus Truppen anschlossen, die über die südliche Steppe von Noxus gen Osten marschierte. Wie eine kolossale Schlange aus roten Bannern und dunklem Eisen zogen sie über das Land und über Ebenen, die Erath an seine Heimat in Dalamor erinnerten.

„Wir sind einfach zu viele“, hatte ein grauhaariger Feldwebel Erath gesagt, als sie eines Nachts für ihre Verpflegung angestanden hatten. „Die Docks der Hafenstadt sind riesig, aber sie könnten dort Tag und Nacht arbeiten – und das tun sie auch – und es würde nicht reichen, um alle mobilisierten Truppen abzufertigen.“

„Deshalb reisen wir nach Osten?“, fragte Erath.

Der Feldwebel grunzte und lächelte auf seinen zerbeulten Zinnbecher herab, der gerade mit Eintopf und einem Klotz aus hartem Schwarzbrot gefüllt wurde. „Während die anderen in den feuchten Innereien eines Boots zusammengepfercht werden und den Ratten Gesellschaft leisten, dürfen wir uns ein bisschen die Beine vertreten, bevor wir uns schließlich aufteilen und zu den Anlegeplätzen an der Küste marschieren.“

„Und wo geht es dann hin?“ Erath nickte dem Koch zum Dank zu, nachdem er seine Portion erhalten hatte. „Wo liegt unser Ziel?“

„Das hat dir niemand gesagt?“, fragte der Feldwebel mit vollem Mund. „Wir gehen nach Ionia Tip Ionia, Junge.“

Erath kam stolpernd zum Stehen. Fast wäre ihm das Essen aus seinen tauben Fingern gefallen. Seine Hand bewegte sich zu seiner Brust und er erfühlte die Beule, die der Anhänger bildete. Ionia.

„Du stehst den anderen im Weg“, sagte der Feldwebel mit finsterem Blick.

„Letztes Mal …“, sagte Erath leise. „Der Krieg. Das Imperium … Sie haben die Hälfte meines Stammes zum Kampf einberufen.“ Er schaute zum Feldwebel hoch. „Niemand kam zurück.“

„Klingt, als würdest du die Chance bekommen, dich mit ein bisschen Blutvergießen zu rächen.“ Der Feldwebel zog den Kragen seiner Tunika herunter und enthüllte eine übel aussehende, rote Narbe, die sich wie ein verästelter Blitz über seine gesamte Brust erstreckte. „Magie. Da drüben haben viele von uns noch Rechnungen offen, Junge, und wir alle waren geduldig. Aber der Zahltag rückt näher.“

Erath schenkte dem Feldwebel ein schmales Lächeln, das nicht von Herzen kam, bevor er in sein Quartier zurückkehrte. Hunger hatte er nicht mehr.

Der Rest des Marsches verlief genauso stramm und ereignislos wie der Anfang. Mit der Zeit trennten sich mehr und mehr Soldaten vom Schlachtzug, um zu den Häfen zu marschieren, denen man sie zugewiesen hatte. Erath fühlte sich seinen Gefährtinnen nach wie vor nicht zugehörig, denn die Runenschmiedin Tifalenji blieb distanziert und Arrel gar feindselig, also kümmerte er sich stattdessen um die Aufgabe, wegen der man ihn von seinem Stamm getrennt hatte: den kolossalen Basilisken ihrer Gruppe.

So gewaltig und stark das Wesen auch war, der Quartiermeister in der Hauptstadt hatte recht gehabt. Der Basilisk war nicht nur handzahm, sondern schien sich auch über Aufmerksamkeit zu freuen. Erath wünschte sich, dass sich die Drachenhunde irgendwann auch zugänglicher zeigen würden, aber wirklich hoffen konnte er das nicht. Das Rudel umkreiste die gerüstete Noxianerin ununterbrochen und gehorchte ihrem Alphatier bedingungslos.

Erath hatte den Basilisken auf den Namen Talz getauft, den auch sein alter Hirtenhund damals getragen hatte. Die schwerfällige Echse hörte schnell auf ihren neuen Namen, während Erath tagein, tagaus dafür sorgte, dass sie an ihrem Platz im Konvoi blieb und regelmäßig Gras zwischen die Zähne bekam.

Nach einer Woche versammelte die Runenschmiedin ihre Gruppe und verkündete, dass sie sich von der Hauptarmee trennen würden. Das Heer sollte weiter gen Osten ziehen, sie in Richtung Süden.

„Wir reisen zu den Blutklippen“, sagte Tifalenji und Erath sah dabei zu, wie der Schlachtzug, diese gewaltige, lückenlose Masse aus noxianischen Kriegern, am Horizont kleiner und kleiner wurde.

„Was erwartet uns dort?“, fragte er.

„Nicht was,“, antwortete die Runenschmiedin, „sondern wer.“

Erath nickte. Tifalenji hatte bereits erwähnt, dass sich ihnen noch jemand anschließen würde. Er warf einen Blick zurück auf die zusätzlichen Vorräte, die Talz auf seinem Rücken trug. „Und wer?“

„Eine überhebliche K’naad“, spöttelte Arrel, während sie Wasser aus ihrem Trinkschlauch in ihre Handfläche goss, damit ihre Hunde trinken konnten. Die Ohren von Eins richteten sich bei dem Wort auf. Erath hatte es noch nie gehört, aber er konnte seine Bedeutung ungefähr erahnen. Arrel grinste Tifalenji höhnisch an. „Wir verschwenden unsere Zeit. Wir brauchen sie nicht.“

„Das entscheide ich“, erwiderte die Runenschmiedin ruhig. Sie schaute zu Erath und stieß einen Seufzer zwischen ihren Zähnen hervor. „Sie heißt Marit, Klingenknappe.“

„Marit beschäftigt sich am liebsten damit, jeden in Hörweite daran zu erinnern, dass sie vor der Revolution eine Adlige war“, murrte Arrel. „Man hat ihrer Familie ihr Eigentum und ihre Macht genommen, aber wenn man sie reden hört, könnte man glauben, niemand hätte ihr davon erzählt.“

Arrels Blick schweifte über die Landschaft. „Sie hat ununterbrochen von den wundervollen Ländereien geredet, die ihrer Familie damals gehört haben.“ Sie schüttelte den Kopf. „Was für ein Drecksloch.“

„Sie ist eine Elitesoldatin“, konterte Tifalenji. „Erfahren und kampferprobt. Sie ist für uns von Nutzen und damit ist dieses Gespräch beendet.“

Die Straße zu den Blutklippen führte durch trockene Ebenen und niedrige, ausgedörrte Hügel. Diese Hitze war das genaue Gegenstück zu der nebligen Kühle von Dalamor, die Erath kannte. Trotz der sengenden Sonne am wolkenlosen Himmel bemühte er sich, mit ihrem begrenzten Wasservorrat sparsam umzugehen.

Arrel hielt an. Erath tätschelte Talz Flanke und brachte ihn so zum Stehen, während er die Fährtenleserin beobachtete. Sie kniete sich hin und drückte ihre Handfläche auf den Boden. „Es kommt etwas auf uns zu.“

Die Runenschmiedin, die auf dem Rücken von Talz saß, nahm das Fernglas von ihrem Gürtel, zog das Messingrohr aus und schaute hindurch. „Reiter voraus“, bestätigte sie. „Und es sind keine Noxianer.“

Erath guckte in dieselbe Richtung und erkannte, wie zwei winzige Figuren am Kamm eines Hügels erschienen. Er konnte gerade so erkennen, dass sie auf Pferden ritten. Sein Herzschlag wurde schneller und seine Hand glitt zu dem mit Leder umwickelten Heft des kurzen Malchus an seiner Hüfte. Nach einer so langen Reise auf der Straße und so vielen Tagen, die alle gleich abgelaufen waren, war die Aussicht auf ein Scharmützel eine angenehme Abwechslung.

„Zwei, Drei“, rief Arrel und die zwei Drachenhunde sprangen vor.

„Moment“, sagte Tifalenji und schaute zurück. „Da kommen noch mehr.“

Erath drehte sich um und sah, dass hinter ihnen noch mehr Gestalten auftauchten. Wenig später erschienen an ihren Flanken weitere Silhouetten. Er hörte den schallenden Klang des Horns fast nicht, als sie die Hügel herunterritten.

„Räuber.“ Tifalenji nahm das Runenschwert von ihrem Rücken. „Bildet einen Kreis. Jetzt.“

Der Boden begann zu beben. Erst war es nur ein sanftes Rütteln, aber es schwoll zu einem Donnern an, als der Ansturm der Reiter näher und näher rückte. Erath wandte sich zu Talz und versuchte, ihn irgendwie am Boden festzubinden, falls er durch den Angriff in Panik ausbrach. Da traf ihn ein Schlag von Tifalenji am Kopf.

Konzentrier dich!“, zischte sie.

Erath vergaß Talz, zückte stattdessen sein Malchus und umklammerte es. Er entfernte sich von Arrel und der Runenschmiedin und versuchte sein Drittel ihres winzigen Kreises abzudecken. Die Räuber waren jetzt deutlich sichtbar. Die Umhänge ihrer leichten Rüstungen wehten genauso im Wind wie die blaugrünen Banner, die an den mit Stacheln versehenen Lanzen hingen.

Die Noxianer machten sich auf den Angriff gefasst. Ein smaragdfarbenes Feuer erhellte die Runen auf Tifalenjis Klinge. Arrels Hunde heulten auf.

In letzter Sekunde schwenkten die Pferde zur Seite um, sodass sie nun kreisförmig um die kleine Gruppe herum galoppierten. Der Staub, den ihre mit Eisen beschlagenen Hufe aufwirbelten, wurde zu einem dichten, rasenden Vorhang, der sie von der Außenwelt abtrennte. Nur mit Mühe konnte Erath die Silhouetten erkennen, die um sie herumsausten.

Noxus Schwesternschaft des Krieges 01

Die Luft surrte. Erath sprang zur Seite, als sich eine Lanze genau dort in den Boden grub, wo er bis eben noch gestanden hatte. Er hörte, wie Arrel einen Befehl bellte. Einer ihrer Hunde sprang in die Staubwolke. Tifalenji erhob ihre Stimme zu einem Gesang. Die Worte schmerzten in Eraths Ohren, als sich Würmer aus grünem Licht über ihre Klinge wanden.

Say-RAH-dech!“, brüllte sie und schnitt mit ihrer Klinge in die Luft. Eine Welle aus jadefarbenen Blitzen raste durch den staubigen Wall.

Erath konnte nicht erkennen, ob sie etwas getroffen hatte. Oder ob Arrels Hund noch lebte. Alles war ein einziges Chaos. Lärm. Ein Todesschrei schnitt durch die Luft. Der Zyklon, der sie einsperrte, strauchelte. Erath hörte ein Reißen. Er sprang zurück, als ein Schwall aus dunklem Blut aus dem Staub hervorschoss und ihn mit warmem Rot bedeckte.

Er stand einfach da. Hilf ihnen, du Dummkopf.

Der Staub legte sich allmählich und Erath sammelte seinen Mut. Er konzentrierte sich auf einen Schatten vor ihm und stürmte mit erhobenem Malchus und dem Todesschrei seines Stammes auf ihn zu. Mit geschlossenen Augen sprintete er durch den Hagel aus Körnern, und als er seine Augen öffnete, sah er vor sich ein Reittier, aber es war kein Pferd.

Was es auch war, seine Reiterin hielt ihm schon ihre Gleve an die Kehle.

„Aber, aber“, sagte eine weiche und kultivierte Stimme. „Mein Ross hatte heute schon ein wahres Festmahl, aber vielleicht ist noch Platz für einen kleinen Happen.“

Mit der Waffenspitze hob sie Eraths Kinn. Er schaute an ihr entlang zu der Reiterin. Das Gesicht der hochgewachsenen und dünnen Frau lag hinter einer Maske aus Eisen und schwarzem Leder verborgen. Von ihrer Gleve hing das noxianische Banner. Als Umhang trug sie eine andere zerschlissene Standarte, die Erath nicht erkannte.

Mit sicherem Sitz ritt sie auf einer wendig aussehenden, auf zwei Beinen stehenden Kreatur aus schlanken Muskeln, deren Schwanz hin und her peitschte. Sie schien eine Mischung aus einer Echse und einem Vogel zu sein. Die scheußliche Fratze des Wesens zeigte blutbefleckte Reißzähne. Der Staub hatte sich nun gelegt und so hatte Erath freien Blick auf die toten Räuber, die mal mehr, mal weniger verstümmelt um sie herum lagen.

Er spürte, wie der durchdringende Blick hinter der Maske ihn musterte. Ihre Augen funkelten belustigt auf, als sie ihre Gleve zu einem toten Räuber senkte und sein Banner mit einem Ruck ihrer Hand abriss. Erst dann sah Erath, dass an ihrem Reittier noch weitere Banner hingen. Dann kamen Tifalenji und Arrel zu ihnen.

„Arrel, du frostige K’naad!“, rief die Noxianerin aus, als sie voller Selbstbewusstsein auf die Gruppe zukam. „Wo haben sie dich denn ausgegraben? Als ich das letzte Mal von dir gehört habe, hieß es, du würdest in dieser Jauchegrube Zhaun Kopfgelder eintreiben.“ Sie zitterte theatralisch. „Diese Stadt ist wie eine Zahnlücke. Einfach grässlich!“

„Marit“, sagte Arrel ausdruckslos. Erath schaute zu der Fährtenleserin. Selbst für Arrel wirkte diese Begrüßung kühl. Im Stahlgrau ihrer Augen lag etwas, das er dort noch nie gesehen hatte.

„Und wer sind deine Freunde hier?“ Marit schaute zu Erath und Tifalenji. „Ich kann mir kaum vorstellen, dass ihr nur auf der Durchreise seid.“

„Sei gegrüßt“, sagte Tifalenji und verneigte ihren Kopf zum Gruße. „Deine Instinkte täuschen dich nicht. Wir kommen im Dienst des Imperiums. Unser Mandat.“

Die Runenschmiedin übergab Marit eine Schriftrolle. Die maskierte Frau rollte sie auf. Ihre dunklen Augen blickten mehrmals zu Tifalenji, während sie las.

Unter Androhung der Todesstrafe“, las Marit dramatisch vor, bevor sie Tifalenji die Schriftrolle zurückgab. „Nun, das scheint seine Richtigkeit zu haben. Wann brechen wir auf?“

„Sofort“, antwortete Tifalenji.

„Wie zu erwarten.“ Marit schaute zu Erath. „Ein Diener, hm?“

Er zögerte. „Ähm, ich bin ein Klingenkna…“

„Du kannst mich mit ‚Herrin‘ anreden, Diener.“ Marit deutete zu ihrem Reittier. „Und das ist mein glorreiches Reittier, die werte Lady Henrietta Eliza Vaspaysian IV. von Orogonthis.“ Sie kniff die Augen zusammen, als sie Erath abermals musterte. „Aber du scheinst geistig eher eingeschränkt zu sein, also wird ‚Henrietta‘ wohl genügen müssen.“

Henrietta schwang ihren langen, muskulösen Hals in Eraths Richtung und stieß durch ihre Reißzähne ein zwitscherndes Zischen aus.

„Was frisst sie?“, fragte Erath.

„Menschen, die mir auf die Nerven gehen“, sagte Marit und ging zu ihrem Pavillon. „Gib ihr, was sie braucht, kleiner Mann, und rede nur, wenn man dich anspricht.“

Erath öffnete seinen Mund, um zu antworten, aber Henrietta zischte erneut, also schluckte er seinen Ärger herunter.

Gemeinsam hatten sie das Lager von Marit im Nu abgebaut und auf Talz’ Rücken verladen. Dem Basilisken schien das zusätzliche Gewicht nicht aufzufallen. Mit jedem Tag konnte Erath sich besser vorstellen, wie ein erwachsenes Exemplar Festungsmauern niederriss.

„Ist alles zum Aufbruch bereit?“, fragte die Runenschmiedin.

Erath nickte und so gab sie das Signal, sich in Bewegung zu setzen. Marit schwang sich in den polierten Ledersattel auf Henriettas Rücken und band das noxianische Banner an ihre Gleve. Die zweite Standarte lag wieder um ihre Schultern.

„Dann mal los, Talz!“, rief Erath und drängte den Basilisken so von der Wasserstelle, an der er bis eben getrunken und auf Gräsern gekaut hatte.

Marit neigte ihren Kopf zur Seite. „Moment, Moment. Er hat eurem Lasttier einen Namen gegeben?“

„Ja, hat er“, sagte Arrel.

Marit schnaubte. „Dann können wir das Fleisch des Basilisken wenigstens mit den Tränen dieses Dummkopfs würzen, wenn wir ihn auf unserer Reise verspeisen müssen.“

„Diese Reiter“, sagte Tifalenji und nickte in die Richtung, in der sie am Horizont verschwunden waren.

„Ja?“ Marit lehnte sich aus ihrem Sattel herunter. „Was ist mit ihnen?“

„Macht es dir keine Sorgen, dass sie in deiner Abwesenheit einfach weiterhin plündern?“

Marit winkte ab. „Ach, nein. Das hier sind die Ländereien meiner Vorfahren. Wenn sie diesen Ort gut behandeln, dann schön. Aber wenn sie das nicht tun, dann töte ich sie bei meiner Rückkehr einfach alle. Wer sich zu viele Gedanken macht, bekommt nur Sorgenfalten.“

Ein paar Tage später erreichten sie die Blutklippen. Die Runenschmiedin trieb sie in einem strammen Tempo voran und ließ sie nur anhalten, wenn es sich nicht vermeiden ließ. Nachts hielten sie abwechselnd Wache, um nicht überrascht zu werden. Erath sah jede Nacht, wie Tifalenji entfernt von den anderen an der Straße oder am Lager saß und aufmerksam zum Mond emporschaute.

Sie bewegten sich nach Osten am Fuß eines kleinen Gebirges entlang, bevor sie mit der Morgendämmerung an ihrem Zielhafen beim Drakkentor ankamen. Erath stellte fest, dass die Hafenanlagen hier genauso geschäftig waren wie anderswo auch. Er fand sich in demselben organisierten Chaos wieder, dass wegen der Mobilisierung der Streitmacht an der gesamten östlichen Küste von Noxus vorzuherrschen schien. Tausende Krieger sowie die unzähligen Schmiede, Köche, Baumeister, Flickschneider und Priester, die sich um sie kümmerten, gingen an Bord riesiger Truppenschiffen. Sobald diese dann voll beladen waren, wurden gewaltige, blutrote Segel aufgerollt und Ruder in das Wasser getaucht, um die Reise über das Meer zu beginnen.

Unmittelbar nachdem sie angekommen waren, machte sich Erath bereits auf die Suche nach Vorräten. Zwar waren die Schiffe schon mit der nötigen Versorgung für Soldaten und Kreaturen, die eine Armee für gewöhnlich mit sich führte, ausgestattet, aber ihre Gruppe hatte eine Vielfalt an exotischen Wesen im Schlepptau, für die er verantwortlich war. Zu Eraths Glück war das Mandat der Runenschmiedin von so großer Bedeutung, dass er sich die endlos langen Warteschlangen sparen und selbst gegen die starrköpfigsten Quartiermeister behaupten konnte. Noch bevor die Sonne hoch am Himmel stand, waren sie bereit, an Bord ihres Schiffes zu gehen.

„Dort.“ Tifalenji zeigte in Richtung der Hafenanlagen. „Das ist unser Schiff. „Die Atoniad.“

Eraths Blick fiel auf das Schiff. Die Atoniad war ein Truppentransporter, dem man anhand der scharfen Kanten, der dunklen Eisenpanzerung und der eng gerollten, blutroten Segel, die nur darauf warteten, das Schiff endlich über die Wellen zu tragen, direkt ansah, dass er aus Noxus stammte. Das größte Schiff, mit dem er bisher über Gewässer gereist war, war das Ruderboot gewesen, das ihn und seinen Stamm zur unsterblichen Bastion gebracht hatte. Im Vergleich mit der Atoniad war dieses Ruderboot nicht mehr als ein Zahnstocher verglichen mit einer Stahllanze.

Ganze Reihen von Männern und Frauen gingen bereits an Bord und drängten sich auf den Landungsbrücken, während über breite Rampen Tiere und Paletten mit Werkzeugen, Stein und Holz eingeladen wurden.

„Ich kann kaum Soldaten sehen“, sagte Erath.

„Uns begleiten vor allem Arbeiter und Steinmetze“, sagte Tifalenji. „Die Atoniad segelt nach Fae’lor, nicht zu den Hauptinseln.“

„Nach Fae'lor?“ Erath warf der Runenschmiedin einen fragenden Blick zu. „Wir reisen also zur großen Festung?“

„Zu dem, was davon übrig ist“, murmelte Arrel.

Die Kunde von der Tragödie bei Fae’lor war bis ins ferne Dalamor gelangt. Erath hatte sich mit seinem Stamm um ein Feuer herum versammelt, als die Schamanen ihnen mitteilten, wie eine feige Bande von Ioniern die noxianische Festung dort angegriffen hatte. In ihrer Verzweiflung hatten sie Magie entfesselt, die sie nicht beherrschen konnten Magie entfesselt, die sie nicht beherrschen konnten, und so verheerende Schäden angerichtet.

Zwei Wochen später war der Stamm dazu aufgerufen worden, mit seinen Speeren in die Hauptstadt zu ziehen.

Mit all seinen Speeren.

„Wir brechen auf“, sagte Tifalenji. Sie deutete auf die breiten Rampen. „Nimm die Tiere und bring sie an Bord, Klingenknappe.“

Erath verneigte seinen Kopf und schaute zu Arrel. „Soll ich die Hunde auch mitnehmen?“

Alle vier Drachenhunde warfen ihm finstere Blicke zu. Irgendwie schafften sie es, ihn alle in genau derselben Tonlage zu genau derselben Zeit anzuknurren. Ein Chor aus wütenden Kiefern.

„Sie bleiben bei mir.“ Arrel schnippte mit den Fingern und das Rudel wurde still.

Erath nahm die Zügel von Talz in die Hand. Marit übergab ihm Henriettas Zügel und streichelte ihr Reittier noch einmal über den Kiefer.

„Sorg dafür, dass die Lady allein untergebracht wird“, forderte Marit Erath auf, als er die Tiere zum Schiff führte. „Wenn sie sich ihren Platz mit irgendetwas anderem teilen muss, wird sie schnell dafür sorgen, dass sie ihren Freiraum hat.“

Die Luft war kalt und von salzigem Sprühregen erfüllt. Zu der kleinen Flotte gehörten neben der Atoniad noch zwölf weitere Schiffe, deren rote Segel durch den wohlgesonnenen Wind bis aufs Äußerste gespannt waren. Zumindest fürs Erste übernahm das Wetter die Pflicht der Ruderer, die unter Deck warteten. An Bord machten viele Gerüchte und Schauermärchen die Runde. Erst letzte Nacht hatten sie angeblich Meereswege durchfahren, die oft von Piraten heimgesucht wurden. Allerdings konnte sich kaum jemand einen Seeräuber vorstellen, der dumm genug war, um sein Glück gegen ein Dutzend imperiale Kriegsschiffe zu versuchen, die von Bug bis Heck mit kriegslustigen Mördern gefüllt waren.

Erath wandte sich von der Flotte ab, als Arrel näherkam. Beinahe hätte er salutiert, doch dann erinnerte er sich, dass sie ihm das untersagt hatte. Arrel ignorierte seine seltsame halbe Geste. Sie schaute nach unten und bemerkte, wie fest sich der Junge an die Reling klammerte. „Deine erste Schiffsreise über das Meer?“

Der Klingenknappe nickte. „Wir sind jetzt drei Tage auf See und es heißt, es dauert noch drei Tage, bis wir Fae’lor erreichen.“ Er machte eine ausufernde Handbewegung über die grau wogenden Wellen, die sich bis zum Horizont erstreckten und nur von den Silhouetten der von Salz umhüllten Kriegsschiffe unterbrochen wurden. „Ich hätte nie gedacht, dass es so viel Wasser gibt.“

Arrel grunzte und Erath wusste nicht, ob sie ihm zustimmte oder ihn verspottete.

„Ihr wart schon mal im Krieg“, sagte Erath, dem das vorige Thema Unbehagen bereitete. „Wie ist es in Ionia gewesen?“

Arrel antwortete nicht sofort. Die Fährtenleserin starrte auf den Ozean und senkte ihre Hand, um die glatte, ledrige Haut hinter der knochigen Maske von Zwei zu kraulen. Sie atmete langsam aus. „Es ist ein Ort voller Schönheit. Und voller Tod.“

„Ionia ist nur ein riesiger Dschungelgreifvogel, dem man den Kopf abgetrennt hat.“ Marit tauchte hinter ihnen auf und kam näher, nur um sich dann gemütlich an die Reling zu lehnen. „Letztes Mal haben wir ihn enthauptet und jetzt fuchtelt er unkontrolliert herum und stiftet dabei auch noch Chaos, weil er nicht begreift, dass er längst tot ist.“

„Ich habe oft Greifvögel gejagt“, sagte Arrel. „Sie können dir auch ohne ihren Kopf die Eingeweide rausreißen.“

„Also kommt wieder ein Krieg?“, fragte Erath. „Wieder ein Krieg gegen Ionia?“

Marit zuckte mit den Schultern. „Ich habe keinen blassen Dunst, aber um nur ein bisschen mit den Schwertern zu rasseln, hat der Großgeneral Großgeneral etwas viele Stiefel über den Ozean fahren lassen. Hoffen wir einfach, dass er dieses Mal genug Rückgrat hat, um uns beenden zu lassen, was wir begonnen haben.“

Arrel ging fort und Erath schaute wieder auf die unfassbare Weite aus sanft schäumenden Wellen. „Wie heißt dieses Meer?“, fragte er.

„Wen interessiert, wie es heißt?“ Marit lehnte sich über die Schulter von Erath, bevor sie ging, und sagte: „Es gehört uns.“

Erath war noch nie so dankbar, trockenen Boden zu sehen.

Die Festung von Fae’lor wurde am Horizont immer größer und klarer erkennbar. Die Atoniad hatte die Reise zur Insel schnell hinter sich gebracht, aber Erath war dabei klar geworden, dass er nicht für das Leben auf See geschaffen war. Das Schwanken und Schaukeln des Kriegsschiffes hatte seinem Magen viele seiner Mahlzeiten gestohlen und dem Ozean als mulmigen Tribut seiner Seekrankheit dargebracht. Sein ganzer Körper war von einer knisternden Salzkruste umgeben, die auf seiner Haut brannte.

Er hatte die meiste Zeit unter Deck verbracht und dafür gesorgt, den Tieren in seiner Obhut die Seereise so angenehm zu gestalten, wie er nur konnte. Talz schien es gut ergangen zu sein. Er hatte den Großteil der Zeit in seinem Pferch geschlafen und regelmäßig gefressen. Lady Henrietta hatte hingegen eine etwas gewissenhaftere Aufmerksamkeit erfordert. Ein flinkes und energiegeladenes Tier wie sie war mit der eingeengten Situation auf dem Schiff offenkundig unzufrieden gewesen. Erath war bei ihren Fütterungen äußerst umsichtig vorgegangen, um nicht selbst zum Futter zu werden, und freute sich schon darauf, Henrietta von der Atoniad zu schaffen, damit sie sich die Beine vertreten konnte.

Als die Späher am Bug des Schiffes „Land in Sicht!“ riefen, eilte Erath an Deck. Dort drängten sich Noxianer aneinander, die das Ende ihrer Seereise mit eigenen Augen sehen wollten. Anfangs war es kaum mehr als ein Fleck in der Ferne, der sich nur schwach von dem dunstigen Streifen, an dem Wasser und Himmel aufeinandertrafen, abhob, doch je näher sie kamen, desto deutlicher wurden die Umrisse. Erath erblickte etwas, das die Insel wie rötlich braune Nebelbänken zu umgeben schien und erst bei genauerer Betrachtung ein kräftiges Rot annahm.

Fae’lor war von noxianischen Schiffen umgeben.

In mehreren Kreisen fuhren die Schiffe um die Insel herum und waren so wie eine bewegliche Blockade aus Pfählen, die den Angriff jedes Feindes aufhalten würden. Die Atoniad wurde von einer Patrouille aus dem äußersten Kreis angehalten. Zwei Fregatten zurrten sich mit Enterhaken an dem größeren Schiff fest und legten dann Planken aus, über die Marinesoldaten an Bord kamen.

Erath bemerkte ihre ernsten Mienen, als sie das Truppenschiff mit gezogenen Waffen inspizierten und das Mandat und die Passagierliste des Kapitäns genauestens unter die Lupe nahmen. Sie durchforsteten alle Decks und der Klingenknappe beobachtete, wie drei Blutmagier in ihren Roben jedem Soldaten an Bord direkt in die Augen sahen, während sie leise vor sich hin sangen.

„Wonach suchen sie, Herrin?“, fragte er Tifalenji.

„Anzeichen für Täuschung“, antwortete die Runenschmiedin. „Für Schwindel. Für wilde Magie.“

Auf Erath wirkte das alles mehr als seltsam. „Aber wir sind doch alle noxianische Soldaten auf einem imperialen Schiff. Ist das nicht etwas paranoid?“

„Geduld, Junge“, sagte Tifalenji. „Sobald wir in Fae’lor anlegen, wirst du es verstehen.“

Nachdem sie jeden Zentimeter der Atoniad abgesucht hatten, blieb ein Kontingent der Soldaten an Bord, während der Rest auf die Fregatten zurückkehrte. Daraufhin durfte das Schiff zum nächsten Ring der Blockade vorstoßen. Mit jedem Kreis wiederholte sich auch die akribische Inspektion. Die Wachen, die auf der Atoniad zurückblieben, wurden bei jeder Kontrolle ausgetauscht. Erath war so oft auf Herz und Nieren geprüft wurden, dass er bezweifelte, ob ihm seine eigenen Kameraden – oder wenigstens überhaupt irgendjemand – vertraute, als der Hafen endlich in Sicht war.

Dann konnte er erstmals einen richtigen Blick auf Fae’lor werfen und begann zu verstehen.

Die Festung war ausgebrannt worden. Er konnte nur kümmerliche Überreste der einst stattlichen Befestigungen sehen, die im Herzen der Mauern gestanden haben mussten. Was früher als uneinnehmbar gegolten hatte, erhob sich nun wie schwarze, abgebrochene Zähne aus den Trümmern. Doch das Ausmaß der Zerstörung beschränkte sich nicht auf die Mauern und Türme. Das Land selbst war aufgebrochen worden. Der Boden wies tiefe Spalten auf, als hätte jemand etwas aus ihm herausgerissen. Alles deutete auf eine unvorstellbare Naturkatastrophe hin.

Die Atoniad kam an ihrem Liegeplatz an und sofort machten sich Noxianer sowohl an Bord als auch am Dock an die Arbeit. Handwerker eilten an ihre zugewiesenen Posten, während Rohmaterialien und Vorräte an die Küste geschafft wurden. Erath ging unter Deck und versuchte den schockierenden Anblick der Insel aus seinem Kopf zu vertreiben, als er sich daranmachte, Talz und Henrietta von der Atoniad zu schaffen.

Mit diesen beiden Kreaturen stach er aus den Nutzviehherden und den gewöhnlichen Lasttieren hervor wie ein Löwe unter Katzen. Erath führte sie die weite Rampe aus dem Frachtraum des Schiffs empor. Während er wartete, dass die Leute vor ihm abgefertigt und schließlich nach Fae’lor gelassen wurden, schaute er wie gebannt zu, als sich Arbeiter wie ein Schwarm wildgewordener Ameisen über das Wrack eines anderen Kriegsschiffes hermachten.

Gewaltige Winden und Ketten hievten das Wrack Stück für Stück aus dem Meer. Trupps durchsuchten die Überreste und zogen viel zu viele blasse, aufgeblähte Kadaver der Gefallenen hervor. Das Schiff musste doppelt so groß wie die Atoniad gewesen sein und irgendetwas hatte ihren Rumpf in zwei Teile gespalten wie ein Mann einen Stock über seinem Knie zerbrechen würde.

Was für eine Macht war zu so etwas in der Lage?

Erath erinnerte sich daran, wie er im Schatten der unsterblichen Bastion gestanden hatte. Wie sicher er sich gefühlt hatte, als er den marschierenden Soldaten zugesehen hatte. Wie überzeugt er gewesen war, dass nichts und niemand sie aufhalten konnte.

Beim Anblick von Fae’lors Schicksal schlichen sich zum ersten Mal Zweifel in sein Herz.

Schließlich erreichte er das Ende der Rampe und trat vom durchnässten Holz auf rissigen Fels. Die Luft war dick, feucht und staubig. Es roch nach Gewürzen, nach Dingen, die Erath noch nie gerochen hatte. Dann begriff er endlich, dass er dort war.

Das hier war Ionia.

Erath merkte nicht, wie lange er dort stand oder wie das Leder von Henriettas Zügeln aus seinen Fingern glitt. Als es ihm auffiel, galoppierte Marits Reittier schon in das Lager.

„He!“ Der Klingenknappe war bereits einige Schritte gerannt, als er zu Talz zurückschaute. „Bleib“, warnte er, dann zog er sein Messer und nagelte die Zügel des Basilisken im Boden fest, bevor er Henrietta hinterherhetzte.

„Ganz ruhig“, rief er der umherstreifenden Echse zu, die zwischen zwei Reihen aus Quartierszelten entlangpirschte. Sie hielt an. Ihr langer Hals schwenkte zu Erath. Henrietta zischte ihn durch das funkelnde Metall ihrer Rossstirn an, das Marit gern ihren „Schmuck“ nannte. Zum Teil erfüllte dieser Helm, der ihr Gesicht und ihren Schädel bedeckte, eine schützende Funktion, aber zum Teil war er auch eine Waffe, der ihre ohnehin schon brutalen Reißzähne mit geschärften Eisenklingen verstärkte.

„Ganz ruhig, Lady“, versuchte Erath sie mit ausgebreiteten Armen zu beschwichtigen, als er sich langsam näherte. „Ganz ruhig.“

„Bring dieses Ding unter Kontrolle!“, brüllte eine Stimme aus einer nahen Gruppe. Sowohl Henrietta als auch der Klingenknappe warfen dem Mann einen feindseligen Blick zu.

„Sie war tagelang auf einem Schiff eingepfercht“, schnappte Erath. Er nutzte aus, dass Henrietta abgelenkt war, und riss ihre Zügel wieder an sich, bevor er das Leder um seinen Unterarm wickelte. „Sie braucht Bewegung und will jagen. Willst du die Beute sein? Sonst mach Platz!“

Erath wandte seinen Blick nicht von den Soldaten ab, bis sich die Gruppe aufgelöst hatte. Erst dann merkte er, dass die Runenschmiedin nach ihm rief. Er ging zurück, nahm die Zügel von Talz in die Hand und führte seine beiden Zöglinge zu den anderen. Der Basilisk bereitete ihnen vorne den Weg, während er Henrietta etwas hinter sich gehen ließ, bis sie schließlich bei Tifalenji, Arrel und Marit ankamen. Er sah den Gefährten der Runenschmiedin ihre Anspannung an, als er sich näherte. Ihre Haltungen drückten eine Nervosität aus, die er nie zuvor bei ihnen gesehen hatte.

„Lass dir Zeit“, schnaubte Marit, als sie ihm die Zügel von Henrietta entriss. Arrel hockte sich auf den Boden und strich mit ihren Fingern durch den Schutt, während ihre Drachenhunde sie umkreisten.

„Das war alte Magie“, murmelte die Fährtenleserin. „Etwas, das lange geschlafen hat, und nun wachgerüttelt wurde.“

„Wo hast du gelernt, Magie zu spüren?“ Marit hob skeptisch eine Augenbraue.

Hier“, hauchte Arrel kaum hörbar.

„Oh, ich bin ganz aus dem Häuschen“, antwortete Marit. Sie schaute erwartungsvoll zu Tifalenji. „Und?“

„Das letzte Mitglied unserer Expedition ist hier in Fae’lor“, antwortete die Runenschmiedin. „Wir müssen sie nur finden.“

„Sucht einfach nach einer Duellgrube“, sagte Arrel. „Dem Geruch von Blut kann sie nicht widerstehen.“

Erath nickte. Er hatte sich daran gewöhnt, sich mit dem zufrieden zu geben, was er aus den kryptischen Worten seiner Gefährtinnen schlussfolgern konnte. „Hat sie auch ein Tier, um das ich mich kümmern soll?“

„Ach, mein lieber Diener.“ Marit schüttelte den Kopf. „Wir reden hier von Teneff. Sie ist das Tier.“

Arrel hatte recht. Zwar befand sich Fae’lor noch mitten im Wiederaufbau, aber dennoch war es ein noxianisches Militärlager. Sie folgten dem Klang von klirrendem Stahl, der selbst den Rhythmus der Schmiedehämmer übertönte, dorthin, wo die Krieger der Insel trainierten.

Hinter den Reihen von Quartierszelten waren mehrere flache Gruben ausgegraben worden, in denen sich jeweils zwei Soldaten duellierten. Sie kämpften mit stumpfen Schwertern, Holzstäben oder bloßen Händen. Eines der Duelle zog besonders viel Aufmerksamkeit auf sich. Die Gruppe musste sich durch eine Traube von Soldaten drängen, um einen Blick auf die Grube zu erhaschen.

Zwei Noxianer in voller Kriegsrüstung umkreisten einander. Einer kämpfte mit einem Übungsschwert und einem Faustschild, die andere mit einem schweren Eisenhaken, der an einer Kette angebracht war. Die zuschauenden Soldaten jubelten den beiden zu, während sie einander musterten und versuchten, den anderen mit Finten aus der Deckung zu locken.

Der Schwertkämpfer glaubte, eine Lücke zu sehen. Er sprang nach vorn, schlug mit dem Schild nach dem Gesicht seines Widersachers und schwang sein Schwert gleichzeitig nach den Beinen. Die andere Kämpferin sprang gerade so weit zurück, dass die Klinge sie verfehlte. In derselben Bewegung warf sie die Hakenkette um den Schildarm ihres Widersachers. Sie riss ihren Arm nach unten und zog den Schwertkämpfer so für einen heftigen Kopfstoß nach vorn. Er fiel wie ein Stein in den Dreck, auf den sich das Blut seiner gebrochenen Nase ergoss.

Erstes Blut geht an mich“, brüstete sie sich und die Zuschauer applaudierten.

„Das war ein schmutziger Trick, Teneff“, knurrte der Schwertkämpfer, während er sich mit einem fiesen Lachen das Blut aus dem Gesicht wischte. „Kämpfen wir bis zum zweiten. Ich bin noch nicht fertig mit dir.“

„Wir hatten vereinbart, bis zum ersten Blut zu kämpfen“, sagte Teneff in einem Tonfall, der keine Widerworte duldete. „Wir brauchen dich in den Schlachtreihen, Cestus.“

Der Schwertkämpfer stieß einen Fluch aus und stapfte aus der Grube. Teneff wickelte sich ihre Kette um den Unterarm und schaute auf, nur um zu sehen, wie Erath und die anderen auf sie herabblickten. Ihre Augen weiteten sich vor Verwirrung. „Marit? Arrel?“

Marit gluckste. „Ten, du schlägst wohl immer noch Schädel ein, oder?“

Teneff spuckte hörbar auf den Boden. „Einige von uns haben nie damit aufgehört“, erwiderte sie mit einem Grinsen. Sie griff nach Arrels ausgestreckter Hand und zog sich aus der Grube.

Erath machte ihr Platz, als sie nach oben kam. Teneff war ohne Zweifel als Schildbrecherin zu erkennen. Krieger wie sie verteidigten die Heimat, wenn der Feind bereits in Griffweite war. Narben zogen sich über jedes bisschen Haut, das nicht von Leder oder eiserner Rüstung bedeckt war. In ihren Körper war eine lebenslange Geschichte aus Blut, Kampf und Ehre geritzt. Erath fragte sich, wie viele ihrer Narben sie sich wohl hier in Ionia verdient hatte.

„Das letzte Mal, als ich einen von euch gesehen habe,“, begann Teneff, „waren wir alle …“

„… hier“, beendete Marit. Einige Augenblicke lang legte sich Stille über die Soldatinnen. Zwischen ihnen gab es ein Band, das war für Erath offensichtlich. Aber da war auch eine Leere, etwas Unausgesprochenes, vielleicht sogar etwas, das fehlte. Er hatte genug Zeit mit Soldaten verbracht, um zu wissen, dass er nicht nachhaken sollte.

„Also …“, sagte Teneff und brach die Stille. „Wenn ihr aus Valoran kommt, dann habt ihr schon seit Tagen nichts als Schiffsfraß bekommen. Unser Koch ist kein Künstler am Kessel, aber im Vergleich zu dem Zeug wird euch sein Essen verdammt gut schmecken. Kommt.“

Die Sonne senkte sich allmählich am Horizont herab und tauchte den Himmel in gesprenkelte Streifen aus Gold, Orange und Scharlachrot, die stellenweise schon einen Blauton annahmen. Sie bahnten sich ihren Weg durch das Speisezelt und fanden an einem Feuer Platz, als sich langsam die Kühle der Nacht über sie legte. Die Frauen unterhielten sich über alte Wunden, die sie gemeinsam erlitten hatten, und über neue Erfahrungen, die sie gemacht hatten, seit sie das letzte Mal Seite an Seite gedient hatten. Erath blieb still und hörte zu.

„Und du, Junge …“, sagte Teneff und wandte dem Klingenknappen ihre Aufmerksamkeit zu. „Hast du schon Blut vergossen? Hast du schon gedient?“

Eraths Rücken wurde gerader. „Ich habe schon gedient, ja.“

Ihr Gesicht wurde ernst und sie schien jedes seiner Worte zu analysieren. „Wo?“

„Es war ein Scharmützel an der Grenze westlich der Dalamor-Ebene“, antwortete Erath. „Es ging schnell und war nicht allzu heftig.“ Er sah sie nacheinander an und erkannte, dass seine Antwort nicht reichte. Das hier waren keine ignoranten Zivilisten, die ihren Sensationsdurst stillen und hören wollten, wie es war, in einem Krieg zu kämpfen, den sie nie erleben würden. Nein, diese Frauen waren Veteraninnen, die möglicherweise an seiner Seite kämpfen würden. Dafür mussten sie wissen, was er schon erlebt hatte und wie er sich im Ernstfall schlagen würde.

„Das war bei einer Expansion in ein fruchtbares Tal“, fuhr er fort. „Unsere Gegner waren große Kerle vom Land, aber sie waren dort, um das Feld zu bestellen, nicht um es in Blut zu tränken. Als die Trommeln schneller schlugen, stürmten wir heran, schlossen die Lücke und brachen im Eiltempo durch ihre rechte Flanke. Das hat ihre Reihen schnell aufgelöst.“

„Haben welche überlebt, um das Feld zu bestellen?“, fragte Arrel.

Erath schüttelte den Kopf. „Wir haben versucht, einige am Leben zu lassen, aber daraus wurde nichts. Nachdem die Älteren kapituliert hatten, brachten wir andere Arbeiter dorthin. Die Ernte musste gepflanzt werden. Wir hatten keine Zeit zu verschwenden.“

Marit neigte den Kopf. „Und mit dem Blut von wie vielen großen Bauernkerlen hast du die Erde getränkt, hm?“

„Lass es gut sein“, sagte Tifalenji.

„Ich war Teil der Nachhut.“ Erath zuckte mit den Schultern. „Als ich an die Front kam, waren sie schon gebrochen. Wir haben in erster Linie die getötet, die nicht mehr zu retten waren, und Gräber ausgehoben.“

Die Erinnerung tauchte vor seinem geistigen Auge auf, ohne dass er es wollte. Er sah sich durch das Nachspiel eines gebrochenen Schildwalls stapfen, als jemand nach seinem Knöchel griff. Er sah, wie er auf einen Mann hinunterschaute, dem man einen Speer in den Bauch gerammt hatte und der Worte krächzte, die Erath nicht kannte, aber sehr wohl verstand.

Er sah, wie er seine Speerspitze in die Kehle des Mannes stieß. Wie der Mann seinen Kopf mit letzter Kraft nach oben hielt, um den Tod zu empfangen.

„Wann war das?“, fragte Teneff.

„Vergangenen Frühling“, antwortete Erath.

„Oh, noch ein Kind!“, rief Marit aus.

„Du sollst es gut sein lassen, habe ich gesagt“, knurrte die Runenschmiedin. „Er soll sich um die Tiere kümmern, sonst nichts.“

Marit gluckste und ihre Augen funkelten vergnügt. Teneff musterte Tifalenji. „Und was ist mit dir, Runenformerin? Wo hast du gedient?“

„Weit von hier entfernt“, antwortete sie. Ein merkwürdiger Ausdruck in ihren Augen verriet Erath, dass sie nicht mehr über ihre Erlebnisse hören würden.

Schlaf war für einen Soldaten etwas ganz und gar Wunderbares. So kurz er auch war, jede Phase ununterbrochener Ruhe war für einen Mann oder eine Frau des Krieges so kostbar wie ein voller Bauch oder ein Paar hochwertige Stiefel. Erath hatte versucht, sich an das endlose Schwanken der Atoniad zu gewöhnen, aber seine Nächte waren stets von Rastlosigkeit und Unterbrechungen geprägt gewesen. Jetzt, da er wieder festen Boden unter den Füßen hatte, seinen Umhang auf einem trockenen, ebenen Fleckchen bei den Pferchen der Tiere ausgebereitet hatte und seine Pflichten erledigt waren, ruhte der Kopf des Klingenknappen auf seinem Bündel. Er genoss den Gedanken daran, dass er die nächsten paar Stunden ungestört schlafen würde, bis am frühen Morgen schließlich Zeit für die Fütterung wäre.

Es fühlte sich an, als hätte er nur einmal geblinzelt, als er die Stimme hörte. Sie war scharf und kalt, genau wie das Messer, das sich an seinen Hals schmiegte.

„Sei still und tu, was ich sage, sonst schneide ich dir die Kehle durch.“

Erath öffnete seine Augen. Das Licht der Morgendämmerung war noch einige Stunden entfernt. Nur der dünne, sichelförmige Mond warf ein silbriges Licht auf ihn herab, als er auf die Füße gezogen wurde. Man hatte ihm sein Messer weggenommen. Sie gingen los. Erath achtete darauf, sich stets langsam zu bewegen und seine Hände im Blick seines Peinigers zu halten, als dieser ihn zum Rand des Lagers führte.

Dort standen zwei Gestalten dicht gedrängt. Er hörte das tiefe Knurren von Hunden, als er sich näherte. Die bis eben noch gesichtslosen Silhouetten wurden zu Arrel und Marit, zwischen denen die Runenschmiedin am Boden kniete.

„Was tust du in Ionia, Junge?“, forderte die Stimme, als Erath neben Tifalenji auf die Knie gezwungen wurde. Er war nun wach genug, um die Stimme als Teneff zu erkennen.

„Ich …“

„Er weiß nichts“, sagte Tifalenji ruhig. Teneff nahm das Messer von Eraths Kehle und schritt zur Runenschmiedin.

„Und was wissen wir über dich, hm?“ Teneff schaute zu den anderen beiden Veteraninnen. „Dokumente können gefälscht werden, Mandate fingiert.“

„Mein Mandat ist außerordentlich echt“, sagte Tifalenji mit einer Ruhe, die Erath unheimlich war. „Genau wie die Macht, der ihr euch in diesem Moment zu widersetzen überlegt.“

Marit neigte den Kopf. „Weiß der Junge überhaupt, wen du angeblich jagst? Wen wir für dich jagen sollen?“

„Er weiß, was er wissen muss, sonst nichts.“

„Dann wird es vielleicht Zeit, dass er es erfährt.“ Teneff blickte auf Erath herab. „Du suchst einen Geist. Eine Kriegerin, die ehrenhaft als Heldin von Noxus gestorben ist. Unsere Kameradin.“ Sie deutete auf Arrel und Marit. „Unsere Schwester Schwester!“

„Sie lebt“, sagte die Runenschmiedin.

„Das ist eine Lüge!“, zischte Teneff. „Sag mir, warum ich dir auch nur ein Wort glauben sollte, anstatt dich auf der Stelle zu töten?“

„Weil den Mächten, denen gegenüber ich mich zu verantworten habe, niemals so ein Fehler unterlaufen würde. Wenn sie sagen, dass sie lebt, dann lebt sie auch. Ihr alle habt dem Imperium an ihrer Seite gedient. Jetzt befiehlt das Imperium, dass wir sie finden und zurückbringen. Meine Befugnisse übersteigen die der hiesigen Garnisonen. Sie wissen nichts von unserer Aufgabe – und werden auch nichts erfahren.“

„Wie willst du irgendetwas davon beweisen?“, fragte Marit.

„Ihre Klinge Klinge“, seufzte Tifalenji. Die Züge der Frauen verhärteten sich.

„Was soll damit sein?“, zischte Teneff.

„Wusstet ihr, dass sie sie zerstören wollte?“, fragte die Runenschmiedin. Sie nahm einen tiefen Atemzug und in ihren Augen pulsierte ein smaragdfarbenes Licht. „Sie versagte, und die Magie, die ihrer Waffe innewohnte, brüllte angesichts dieses Sakrilegs auf. Meine Meister hörten ihren Schrei und sie sahen, wer dafür verantwortlich war; sie sahen sie so deutlich, als stünde sie mit ihnen in einem Raum. Deshalb wissen wir, dass sie lebt.“

„Sollte sie noch leben,“, sagte Teneff, „dann ist sie eine Deserteurin. Und du verlangst von uns, dass wir dasselbe Verbrechen begehen. Ein Verbrechen, auf das der Tod steht.“

Tifalenji begegnete Teneffs vernichtendem Blick. „Wenn uns diese Aufgabe gelingt und ihr mir helft, sie aufzuspüren und zur Verurteilung nach Noxus zurückzubringen, dann erwartet euch keinerlei Strafe. Geht in euch. Ruft euch ins Gedächtnis, was ihr an diesem Ort alles geopfert habt, und dann seht mir in die Augen und sagt, dass euch dieser Verrat nicht verletzt. Sagt mir, dass ihr der Gerechtigkeit den Rücken kehrt und keine Antworten von ihr haben wollt. Dass ihr nicht wissen wollt, warum sie sich für dieses Leben entschieden hat.“

Eine düstere Stille hing über ihnen. Teneff, Marit und Arrel waren so angespannt, dass jede falsche oder auch nur unerwartete Bewegung zu Blutvergießen führen würde. Erath kämpfte mit den Nerven. In ihm schwelte eine leise Wut darüber, dass er hier auf Fae’lor für Geheimnisse sterben könnte, in die er nicht einmal eingeweiht war.

„Wir gehen mit dir.“

Alle Blicke fielen auf Arrel. Das waren die ersten Worte, die sie gesagt hatte, seit Teneff Erath hierhergeschleift hatte. Marit stellte sich vor die Fährtenleserin. „Sprichst du jetzt für uns alle?“

„Ja“, sagte Arrel ausdruckslos. Sie räusperte sich und es klang für Erath fast so, als würde ihr das Schmerzen bereiten. „Weil wir allesamt Soldatinnen sind. Und eine Soldatin kommt ihrer Pflicht nach. Aber noch wichtiger ist, dass sie unsere Schwester war. Und Schwestern verdienen Antworten.“

Marit warf Arrel einen eindringlichen, finsteren Blick zu, aber sie gab nach. „Antworten“, wiederholte sie.

Teneff biss die Zähne zusammen und schaute zu den anderen Veteraninnen, die ihr ernst zunickten. Sie zog die Runenschmiedin an ihrem Kragen auf die Füße, gab sie aber nicht frei. „Wenn ich auch nur einen Moment lang glaube, dass du uns hier und jetzt belogen hast, Hexe, dann trenne ich deinen Kopf von deinen Schultern.“

„Ich sage nur die Wahrheit“, antwortete Tifalenji. „Und hier ist noch eine weitere Wahrheit: Wir dürfen nicht noch mehr Zeit vergeuden, als wir schon haben. Wir müssen in das Herz der Ersten Lande vordringen, und zwar umgehend.“

Tifalenji schaute zum ersten Mal zu Erath. „Was ich zu ihnen gesagt habe, gilt für dich genauso, Klingenknappe. Begleite uns auf diesem Weg, diene und unterstütze uns, dann wirst du belohnt.“

„Ich bin ein treuer Krieger von Noxus“, verkündete Erath. „Ich tue meine Pflicht auch ohne geheimnisvolle Versprechungen oder die Androhung einer durchtrennten Kehle. Das Imperium trug mir auf, dass ich Euch dienen soll, also komme ich dem nach. Ich habe nur eine Frage.“

Tifalenji schaute Erath nüchtern an. „Frag.“

„Um wen geht es? Wen jagen wir?“

Die Runenschmiedin zog ihr Schwert. „Womöglich trägt sie jetzt einen anderen Namen, den sie für ihr neues Leben in den Ersten Landen angenommen hat.“

Die Runen, die sie bei ihrer ersten Begegnung mit Erath in die Klinge graviert hatte, sprangen vom Eisen in den Himmel, als wären sie eine Spur, die in das mystische, dunkle Land vor ihnen führte.

„Doch in Noxus nannte sie sich Riven Riven.“


Trivia[]

  • Die Ereignisse der gesamten Schwesternschaft des Krieges-Geschichte sind eine direkte Folge aus Rivens Rivens Geschichte in Awaken.

Referenzen[]

Geschichte und Ereignisse
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