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Ionia Pfeil und Kunai
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Kurzgeschichte

Pfeil und Kunai

Von Joey Yu

Krude Magie lag schwer in der Luft im Süden von Shon-Xan.


Geschichte[]

Krude Magie lag schwer in der Luft im Süden von Shon-Xan. Mystische Kräfte durchfluteten das Land, wogten durch schimmernde Bäume, die ihre Blätter wie Fächer in den Händen von Tänzerinnen in den Farben Magenta und Indigo, Azurblau und Bernstein gen Himmel streckten.

Vom bunten Blattwerk verborgen, verschmolz ein kaum auszumachender Fleck blasser Haut mit dem Geflecht aus Zweigen.

"Er wird jeden Moment hier sein", flüsterte Faey, ein Mädchen, das zwölf Sommer zählte. Dann stieß sie ein hohes Zwitschern wie das eines Spatzen aus. Der Vogelgesang wurde sofort von den anderen aufgenommen und hallte durch das Blätterdach – ein von jungen menschlichen Stimmbändern perfekt imitierter Ton.

Faey wusste, dass alle in Position waren. Die Erwachsenen hatten dieser Jagd nicht zugestimmt, aber sie war wichtig. Wenn die Neophyten den Silbereber fangen könnten, würde nicht nur ihr Hunger für die nächsten Tage gestillt werden, die Akolythen von Kinkou würden sie auch mit echten Missionen betrauen müssen.

Nie wieder Pflaumen pflücken oder Wasser tragen, dachte Faey. Der Orden braucht auch unsere Stärke, denn die Neophyten sind die Zukunft.

Und die Vergangenheit sah düster aus. Fremde Eindringlinge hatten viele Jahre lang in Ionia gewütet und das war lediglich der Anfang einer Reihe von Problemen, denen sich die Kinkou gegenüber sahen. Vor wenigen Monaten war Großmeister Kusho getötet worden: Zed Zed, ein ehemaliges Mitglied des Ordens, hatte ihn brutal ermordet. Danach hatten Zeds Lakaien die Kinkou aus ihrem Hauptlager, dem Tempel von Thanjuul, vertrieben. Viele Überlebende von Zeds Angriff verloren ihren Glauben an den Orden und verließen die Kinkou.

Die Erwachsenen brauchten neue Hoffnung. Faey würde sie ihnen zeigen.

Plötzlich wurde sie aus ihren Tagträumen gerissen. Zwischen den Bäumen raschelte etwas. Blätter fielen herunter und kurz darauf preschte ein riesiger kreischender Eber mit aufgerissenen Augen zwischen den Baumstämmen hervor. Ein schimmernder Glanz lag auf seinem Fell – ein Zeichen dafür, dass er gerade erst aus dem Geisterreich erschienen war.

Voller Zuversicht, dass der Plan aufgehen würde – solange alle ihren Anweisungen folgten – hielt Faey Pfeil und Bogen bereit und wartete, bis der Eber in ihre Reichweite kam.

Eine Neophytin ließ sich, mit dem Fuß in einer Lianenschlinge von den Baumwipfeln hängend, herabfallen. Mit einem riesigen Holzspeer und einem einfachen magischen Wind, den sie beschworen hatte, blockierte sie den Weg des Ebers. Erschrocken rannte der Eber nun in die andere Richtung, doch hier wurde ihm der Weg von einem Jungen abgeschnitten, der sich an einer anderen Liane herabgeschwungen hatte und das Tier mit einer kleinen beschworenen Wolke aus Rauch und Asche blendete. Sein Speer schrammte über die Haut des Ebers und ließ ihn aufheulen.

Einer nach dem anderen schwangen sich die Neophyten von den Baumwipfeln herunter. Ihr Geschick, ihre Präzision und ihr Fokus auf die Jagd ließen auf wahren kriegerischen Geist schließen. Dennoch zählte der Älteste unter ihnen nicht mehr als dreizehn Sommer.

Wir sind die Neophyten der Kinkou, dachte Faey stolz.

Die an Lianen schwingenden Kinder versperrten dem Eber den Fluchtweg vollends, ließen ihm jedoch eine Öffnung zum engsten Teil der kleinen Klamm, an deren Ende Faey in Position wartete. Sie war für das Töten verantwortlich.

Gute Arbeit, alle miteinander. Jetzt bin ich an der Reihe. Faey schluckte schwer. Kopfüber hängend spannte sie einen Pfeil in ihren Bogen ein.

Konzentration. Der Pfeil soll das Tier weder aufschlitzen noch schrammen, sondern mit einem einzigen Treffer töten. Sie richtete die glänzende Pfeilspitze auf das Auge des rennenden Ebers. Als ob sie Faeys Vorhaben ahnte, bewegte sich die Liane, die um ihre Hüfte geschlungen war, ein kleines Stück – gerade so, dass sie ihr Ziel im Visier behielt.

Faey fegte jegliche weiteren Gedanken beiseite und gab sich ihrem Instinkt gänzlich hin. Sobald sie wusste, dass sie den Eber im Visier hatte, würde sie den Pfeil –

"Jaaaah!" Ein kleiner Schatten löste sich von der Seite der Klamm und landete mit einem spitzen Schrei auf dem Rücken des Ebers. Das erschrockene Tier drehte sich ruckartig um und rannte in die entgegengesetzte Richtung.

Auf seinem Rücken saß ein kleines Mädchen, das sich mit einer Hand am silbernen Fell des Ebers festhielt und mit der anderen ein Seil über ihren Kopf schwang.

Überwältigt beobachtete Faey, wie der Eber mit dem Mädchen auf dem Rücken rasend wurde.

"Nein! Akali Akali !" Faey schrie auf, als ihr Plan vor ihren Augen scheiterte.

Der Eber begann, sich beim Laufen mit der Seite gegen die Baumstümpfe auf dem Weg zu werfen, in der Hoffnung, das Mädchen so von seinem Rücken abzuwerfen. Irgendwie gelang es Akali, den Aufprallen auszuweichen und sich weiter hartnäckig an dem rasenden Tier festzuhalten während ihr lautes Lachen dessen wütendes Quieken übertönte. Sie versuchte, die Schnauze des Silberebers mit ihrer Seilschlinge zu fangen, doch ohne Erfolg.

Einige wenige Neophyten versuchten, dem wilden Tier den Weg abzuschneiden, aber er stieß sie einfach beiseite. Schließlich schlüpfte der Eber durch eine Seitenöffnung der Klamm auf eine Ebene, auf der Bäume ihre Schatten warfen.

Der Eber bäumte sich ein letztes Mal mit einem heftigen Sprung auf und warf Akali endlich ab. Sie stürzte auf den Waldboden, wirbelte dabei jede Menge Blätter auf und blieb schließlich mit dem Gesicht nach unten und alle Viere von sich gestreckt liegen.

Faey eilte zu ihr herüber. "Bist du denn völlig verrückt?!"

Akali setzte sich auf und schüttelte die Blätter von ihrer Kleidung. Sie war neun, drei Sommer jünger als Faey. "Ich wollte nur helfen", sagte Akali.

"Ich hab dir doch verboten, uns zu folgen!", schrie Faey. "Wir hatten ihn! "Wir hatten ihn!"

Akali zuckte mit den Achseln und verzog das Gesicht, als ihre Schultern knackten. Schuldbewusst sagte sie: "Du kannst meine Abendpflaume haben."

Nach Zeds Angriff hatten sich die übrigen Kinkou in einen lange verlassenen Tempel östlich von Thanjuul, hoch oben in den Bergen, wo das Gletschwerwasser floss, zurückgezogen. Er befand sich neben einer Lagune mit türkisfarbenem Wasser, durch das sich violette Laternenflora zog. Trotz der Nähe zum Dorf Xuanain war ihr Zufluchtsort dank seiner Höhe und der umgebenden Berge nur schwer zugänglich.

In ihrem von Krieg zerrütteten Land mussten sie feindliche Fraktionen – fremde wie ionische – bekämpfen, welche das Chaos als Gelegenheit sahen, all denen aufzulauern, die sie als schwach ansahen. Die Kinkou hatten sichergestellt, dass keine Verfolger diesen Ort finden würden, bevor sie ein vernünftiges Lager aufgeschlagen hatten. Der Tempel war in schlechtem Zustand und zu klein, um alle zu beherbergen, also mussten die Akolythen zusätzliche Unterkünfte errichten: Hütten aus Fallholz anstatt aus magischem Flechtwerk lebendiger Bäume – wie es für Ionier üblich war – für den Fall, dass sie sich erneut auf den Weg machen mussten.

Das grün-blaue Wasser der Lagune umspülte ihre Sandalen, als die Neophyten nun in einer Linie aufgereiht vor Mayym Jhomen Tethi standen, der Faust der Schatten der Kinkou.

Faey stand Mayym am nächsten, die Augen beschämt nach unten gerichtet. Akali, einen Kopf kleiner als sie, stand neben ihr.

"Das war töricht", sagte Mayym ernst. "Ihr habt die Grenze verlassen und die Sicherheit dieses Zufluchtsorts riskiert. Da draußen könnten Kriegstrupps umherstreifen, die euch hierher zurückverfolgen könnten. Ihr kennt eure Anweisungen."

Einer der älteren Jungen, Yajiro, sagte: "Aber wir waren nicht lange draußen und wir hielten uns versteckt."

"Wir hatten den perfekten Plan", fiel Hisso ein, "aber Akali hat ihn ruiniert! Wenn sie nicht –"

"Nein", fiel Faey dem Mädchen ins Wort. Sie zwang sich, Mayym in die Augen zu sehen. "Es war... meine Schuld. Ich habe allen gesagt, sie sollen mir folgen, als ich entdeckte, dass in diesen Wäldern ein Silbereber lebt."

Akali drehte sich zu Faey, ihre braunen Augen glänzten hinter ihrer zerzausten Mähne.

Akali hatte schon immer zu ihr aufgesehen und manchmal verspürte Faey den Drang, das kleine Mädchen in Schutz zu nehmen. Aber es gab noch einen Grund, warum sie die Schuld auf sich nahm: Mayym war ihre Mentorin und Faey hatte schlicht kein Recht darauf, sie in Frage zu stellen. Es war ungewöhnlich für eine Anführerin der Kinkou, sich einer uneingeweihten Neophytin anzunehmen. Und dafür war Faey dankbar.

"Es ist der letzte Tag des Seelenblumenfests", murmelte Faey. "Ich dachte, wenn wir einen Eber erlegen, könnten alle etwas Fleisch essen."

Mayym musterte sie einen langen Moment. Dann ließ sie ihren Blick über die anderen Kinder schweifen, deren schmale Gestalten unter den zerlumpten Hanfkleidern zerbrechlich ausgesehen haben müssen. Emotionen ließen ihren Augenbrauen kaum merklich zucken, aber sie hob schnell das Kinn und sagte: "Als Strafe fällt heute für euch alle das Abendessen aus. Wegtreten."

Die Neophyten schlurften davon, einige von ihnen mit Tränen in den Augen. Faey biss sich auf die Lippe und wollte gerade gehen, als Mayym sie zu sich rief.

"Faey, geh ein Stück mit mir."

In der fortschreitenden Dämmerung schritt Mayym anmutig am Rande der Lagune entlang und entfernte sich von der Ansammlung schäbiger Behausungen. Faey wollte ihr gerade folgen, als sie sah, dass Akali sich kein Stück bewegt hatte. Das kleine Mädchen sah sie an.

Aus irgendeinem Grund behandelte Akalis Mutter in Gegenwart von Faey ihre eigene Tochter wie Luft.

Faey fühlte sich etwas schuldig, aber sie wandte sich von ihr ab und lief zu Mayym.

Als die beiden schweigend nebeneinander hergingen, schaute Faey auf die Laternenflora, die in der Lagune trieb. Die violetten Blüten hatten fünf Blütenblätter, die einen Trichter bildeten, durch den sie Dämpfe verschiedenster Schattierungen in die Luft ausstießen. Dank ihrer großen Blätter schwammen sie auf der Wasseroberfläche während Membranen an ihren Wurzeln es ihnen erlaubten, in der Lagune zusammen und wieder auseinander zu treiben. Manche behaupteten, dass die Laternenflora eine Pflanze wäre, Andere waren der Meinung, es wären Tiere. Faey dachte, sie wären beides.

"Ich verstehe deine Absichten", sagte Mayym in einem Tonfall, den sie nur benutzte, wenn sie mit Faey allein war – schwer beladen mit Geduld, niedergedrückt von Erwartungen. "Aber es gibt nichts zu beweisen."

"Wir wollten uns nur unbedingt beweisen... und unbedingt etwas essen." Faey versuchte, respektvoll zu klingen. "Die anderen haben Disziplin gezeigt, so wie wir es gelernt haben. Wir waren ein Team." Abgesehen von Akali, dachte Faey. Aber sie ist die Jüngste.

"Das meinte ich nicht damit", sagte Mayym. "Der Silbereber ist kein Tier, an dessen Fleisch wir uns laben sollten. Hättet ihr ihn getötet, hätte das mehr geschadet als genützt."

"Aber ich dachte, er war zur Jagd freigegeben", sagte Faey.

"Nicht mehr." Mayym führte Faey auf die andere, flachere Seite der Lagune, wo strahlend weiße Kieselsteine aus dem Wasser herausragten. In ihrem fließenden, seidenen Kleid, bewegte sich Mayym voller Anmut während ihre Arme und Oberschenkel von vielen Lagen Bandagen bedeckt waren und mehrere Kunai von ihrer Taille hingen.

In Faeys Augen war Mayym ein wahres Vorbild. Elegant und doch tödlich. Shen, Meister Kushos Sohn, war nun der Anführer des Ordens, aber er konnte ihr nicht das Wasser reichen.

"Ein Silbereber ist mit dem Geisterreich verbunden", fuhr Mayym fort. "Das bedeutet, dass er seine Existenz der Verbindung zwischen beiden Welten verdankt. Er ist eine magische Kreatur."

"So wie viele der Kreaturen Ionias", sagte Faey.

"Ja, aber der Kreislauf von Jäger und Beute wurde gebrochen. Wir versinken im Chaos."

"Wegen Noxus." Sie sprach den Namen der fremden Eindringlinge wie einen Fluch aus.

"Dieser Krieg verwüstet Ionia. Armeen rotten die Tiere fast aus, Bäume in mystischen Wäldern werden gefällt und das Geisterreich ist erschüttert", sagte Mayym, als sie einen steinigen Hang betraten. "Magische Energien werden verdorben und die Ersten Lande verändern sich. Jeder versucht seinen Platz in einer Welt, die außer Kontrolle gerät, zu finden, und das tun sie, indem sie töten. Meistens unbedacht. Die Gewalt des Kriegs verursacht bereits unbeabsichtigten Schaden, der das Gleichgewicht zwischen der weltlichen Ebene und dem Geisterreich stört."

Faey war erschüttert. Hätte ich den Eber getötet, hätte ich das Gleichgewicht gestört – und das sollen die Kinkou doch schützen! "Meisterin Mayym, wie können wir das Gleichgewicht mit dem Geisterreich wiederherstellen? Würde alles wieder so werden wie vorher, wenn alle noxianischen Eindringlinge tot sind?"

"So einfach ist es nicht mehr."

Sie kamen in einen vorüberziehenden Nebel – das Werk der Laternenflora. Die Luft war feucht und kühl. Die Steinplatte unter ihren Füßen war rutschig und leicht geschwungen, so als würden sie zwischen gigantischen Lippen wandeln. Faey konnte einen hervorstehenden Stein an der Seite ausmachen, der einer Nase glich, und dahinter ein paar rissige Furchen, die wie halb geschlossene Augenlider aussahen, durch die kleine Wasserfälle plätscherten. Wir gehen auf einem Gesicht, dachte Faey. Es sah wie Überbleibsel einer riesigen Statue aus einer lange vergessenen Zeit aus, doch konnte man es nicht mit Gewissheit sagen, denn Wasser hat alle Kanten geglättet und rotes Moos bedeckte die sonnenbeschienenen Seiten.

Der Himmel wurde dunkel. Sie kamen an einen Hang und gingen hinauf. "Magie und Leben sind Teil des gleichen Stroms, der die beiden Reiche miteinander verbindet", sagte Mayym.

Faey rezitierte die Lehre der Kinkou: "Die weltliche Ebene und das Geisterreich sind zwei Seiten desselben Blatts an demselben Zweig mit derselben Wurzel."

"Ja. Das Eine kann nicht ohne das Andere gedeihen, und wenn sich eines verdüstert, verfinstert sich auch das andere", sagte Mayym. "Wenn Leben auf unnatürliche Weise, wie im Krieg, vergeht, geraten einige Geister in Vergessenheit. Doch andere bleiben, mit üblen Absichten. Je öfter dies passiert, desto unreiner wird das Geisterreich. Und das wiederum verursacht eine Gegenreaktion, welche das gesamte Leben in der weltlichen Ebene beeinflusst. Ein Teufelskreis."

Die Erwähnung von geistiger Verunreinigung erinnerte Faey an etwas Eigenartiges. "Meisterin Mayym, als wir den Silbereber das erste Mal sahen, war er gerade aus dem Geisterreich gekommen und wirkte ganz aufgewühlt."

Mayym hielt inne und wandte sich ihr zu.

"Als würde er vor etwas davonlaufen", fügte Faye hinzu.

"Und das war hier in der Nähe?"

"Ja, nur auf der anderen Seite der westlichen Hügel."

Mayym blieb eine Weile in Gedanken versunken stehen, dann ging sie weiter. "Es wäre möglich, dass der verdorbene Strom des Krieges ganz Ionia eingehüllt hat und uns selbst hier erreicht, wo keine Schlachten gekämpft werden."

"Wir können helfen", flehte Faey. "Weiht uns ein. Betraut uns mit richtigen Missionen."

"Alles zu seiner Zeit", entgegnete Mayym sanft. "Faey, die anderen Neophyten folgen dir. Selbst diejenigen, die älter sind als du. Sie sehen in dir ein Vorbild."

Faeys Herz machte bei diesem Lob einen Satz.

"Du selbst wirst kein Problem damit haben, als Akolyth eingeweiht zu werden, aber nicht jeder ist so talentiert wie du", sagte Mayym leise. "Du übst auf die anderen Neophyten einen guten Einfluss aus. Und so soll es vorerst noch bleiben."

Faeys Laune sank und sie biss sich auf die Backe. Es muss wegen Akali sein. Sie hält mich zurück.

Sie gingen durch lockeres Dickicht und kamen auf eine erhöht gelegene Ebene. "Geduld ist eine Tugend, aber ebenso eine Fertigkeit, die es zu verbessern gilt – genau wie eine Pfeilspitze – vor allem für diejenigen, die alle anderen übertreffen", erzählte ihr Mayym. "Ihr Neophyten seid die Zukunft der Kinkou. Wir müssen sicher sein, dass ihr alle bereit seid, bevor einer von euch eingeweiht wird."

Faey war anderer Meinung, sagte aber nichts.

Sie hatten den Schutz der Bäume verlassen und erklommen nun den letzten Hügel, der vom Schnee noch verschont war. Den Mond umgab ein heller Ring, der sich gegen den nächtlichen Himmel in einem saphirblauen Silberton abzeichnete. Faey starrte ihn an und wusste, dass sie gerade Zeugin der Beinah-Konvergenz des weltlichen Mondes und seiner Reflektion im Geisterreich wurde. Sie fragte sich, wie er in Mayyms Augen aussehen musste.

In dieser letzten Nacht des Seelenblumenfests in Xuanain hatten Mayym und andere ältere Kinkou etwas völlig anderes an der schwarzen Leinwand des Himmels erkannt: den Kreis einer schwachen Erleuchtung, die teilweise von einem dunkleren Schatten bedeckt war, gleich so, als hätte jemand einen dicken Schleier darüber geworfen, als sich der mystische Mond des Geisterreichs vor den silbernen Mond der weltlichen Ebene schob.

Faey sehnte sich nach dem Tag, an dem auch sie so ein Spektakel erleben durfte – er schien noch so weit entfernt. Doch sie wusste, dass noch viel mehr hinter diesem schönen Anblick steckte. Er kündigte die Versammlung des Kinkou-Triumvirats an, in der sie darüber entschieden, was als Nächstes für den Orden anstehen sollte.

"Faey, arbeite weiter an deinen Fertigkeiten", sagte Mayym, deren Silhouette vom Mondlicht in ein frostiges Silber getaucht wurde, "und du wirst meine Nachfolge als Faust der Schatten antreten."

Wenn dieser Tag kommt, dachte Faey ängstlich, wird es den Kinkou-Orden dann noch geben?

Die Kunst der Kalligraphie erforderte Geduld und Sorgfalt, sowie einen zitterfreien Körper und höchste Konzentration – all das, was Akali hasste.

Sie saß im alten Tempel – neben ihr lagen Tuschestab und Tuschstein – und brachte mit einem breiten Pinsel Zeichen auf ein Blatt Papier. Das Dach war aus uralten Zweigen gefertigt, von denen einige wie der Bart eines alten Mannes nach unten hingen. Lichtblüten, winzige, phosphoreszierende Pflanzen, welche die Akolythen gezogen hatten, hingen in Strängen an den Tempelmauern und erleuchteten Akalis nächtliche Lehrstunde. Der Akolythlehrer saß – ein Gähnen unterdrückend – untätig mit einer Schriftrolle in seinem Schoß neben ihr.

Das ist so leicht wie Reispudding essen, dachte Akali. Mutter wird sich freuen, wenn ich das gut mache.

Und dennoch – je länger sie auf das Zeichen mit dem geschwungenen Strich am Ende starrte, desto mehr sah es wie ein Schnurrbart aus. Völlig fasziniert konnte Akali einfach nicht anders und fügte mit der Spitze ihres Pinsels einige Striche hinzu. Das Zeichen wurde jetzt zu einem grinsenden Gesicht mit Schnurrbart.

Akali lachte laut auf und hielt sich schnell die Hände vor den Mund, wobei sie Tusche an ihre Wangen schmierte. Der Lehrer machte ein finsteres Gesicht und wollte gerade aufstehen, als von der Tür eine Stimme zu ihnen hinüberschallte.

"Hallo, Kleine." Eine kleine Gestalt winkte ihr mit einer mit Krallen versehenen Hand zu.

"Kennen Kennen, du bist zurück!" Akali sprang auf. Sie ließ den Pinsel fallen, der feuchte, schwarze Tuscheflecken auf dem Papier hinterließ, und rannte hinaus.

Der Lehrer herrschte sie an, sie sollte zurückkommen, hielt aber inne, als er sah, dass die Person an der Tür tatsächlich Kennen war, das Herz des Sturms der Kinkou.

Kennen rannte weg, sodass Akali versuchen konnte, ihn zu fangen, auch wenn das unmöglich war. Sie liefen zwischen den Hütten hindurch, dann am Waldrand entlang und wieder zurück und spritzten Wasser am Ufer der Lagune auf. Schließlich hielten sie an einem umgestürzten Baumstamm inne und Akali musste neben dem Yordle erst einmal wieder zu Atem kommen.

"Wie ich hörte, hast du den Versuch der Neophyten, den Silbereber zu fangen, erfolgreich vereitelt", zog Kennen sie auf, während er sich auf den Baumstamm setzte.

"Das wollte ich nicht. Faey hätte mich mitnehmen sollen. Ich kann auch helfen!"

"Mach dir keinen Kopf. So sind Kinder nun mal. Sie dachten wahrscheinlich, dass du zu jung dafür bist." Kennens Stimme war wie die eines Menschenkinds, doch in seinem Tonfall schwang Weisheit mit.

"Aber ich bin größer als du!"

"Das bist du." Kennen streckte seine Hand hoch und zerzauste ihr das Haar.

"Wo ist Shen Shen?", fragte Akali, während sie unbewusst den kleinen Kunai, den sie als Anhänger trug, berührte.

"Er meditiert."

"Ist er immer noch traurig? Er fehlt mir..." Akali hat schon immer zu Shen aufgesehen.

Kennen lächelte wehmütig. "Der Verrat seines besten Freundes und... der Verlust seines Vaters... lasten schwer auf ihm."

Akali wurde an den Tod ihres eigenen Vaters während des Angriffs von Zed erinnert. Er fehlte ihr auch.

Kennen wechselte das Thema. "Was hast du getrieben? Hat dir Mayym beigebracht, wie man das Kunai schwingt?"

Akali schüttelte den Kopf und bedeckte dabei den Kunai-Anhänger mit ihrer Hand. "Mutter hält mich nie für gut genug", murmelte sie. "Sie will nur Zeit mit Faey verbringen."

"Nun ja, ich schätze, Mayym kann nur jeweils einem Schützling etwas beibringen."

"Warum kann ich nicht ihr Schützling sein?" Akali spürte, wie sich ihr Herz vor Schmerz zusammenzog.

Kennen starrte sie einen Augenblick an und rutschte dann näher zu ihr auf den Baumstamm. "Bevor Mayym zur Faust der Schatten wurde, führte sie viele Missionen zusammen mit Faeys Mutter aus. Sie haben als Team zusammengearbeitet."

"Ich weiß."

"Mayym will dich nicht ignorieren. Sie hat nur versprochen, sich um Faey zu kümmern, als du noch ein Baby warst."

Akali hatte keinerlei Erinnerungen an Faeys Eltern. Sie waren beide leitende Akolythen, die vor langer Zeit gestorben waren. Während Kennen geduldig neben ihr wartete, dachte sie nun darüber nach, was das bedeutete.

Wenn der Verlust ihres Vaters sie traurig machte, dann musste Faey doppeltes Leid ertragen, und das schon seit viel längerer Zeit. Akalis Wut ließ nach und in ihr kam ein Gefühl hoch, das sie nicht verstand. Das Gefühl schnürte ihr die Brust zu.

Jeder hat so viel verloren. Dieser Zufluchtsort am Lagunentempel war alles, was ihnen geblieben war.

Der Yordle sprang vor Akali und erschreckte sie. "Hey, das wird schon wieder." Kennen nahm ihr Gesicht in seine Hände. "Du wächst schnell und du kannst schneller laufen als alle anderen Neophyten. Auch deine Mutter wird das eines Tages sehen."

Er rieb seine Nase an ihrer, was Akali ein Lächeln auf die Lippen zauberte. Dann sprang Kennen mit einem Salto flink weg.

"Ich muss jetzt zu einem Treffen", sagte er. "Geh zurück und beende deine Kalligraphiestunde, in Ordnung?"

Tiefhängende Wolken zogen hinter dem Gipfel des Berges auf, wo Basaltspitzen einen Gletscher in ihrer Umarmung hielten. Die Oberfläche des Gletschers war nach einem gigantischen Einschlag nach unten gedrückt worden und Faey stellte sich vor, dass ihn die Faust eines Riesen getroffen hatte.

Dort, an einem Graben, der den Krater in zwei Hälften teilte, stand sie und beobachtete, wie Mayym und Kennen sich gegenüberstanden.

"Der ionische Sieg am Plazidium von Navori", folgerte Mayym, "könnte ein ausschlaggebender Wendepunkt im Krieg gegen Noxus sein." Sie hatte die Arme vor der Brust verschränkt und ihre Phantomsichel auf den Rücken gebunden. "Es gibt viele, deren Handlungen das heilige Gleichgewicht stören, Noxianer und Ionier. Die Kinkou sollten dort sein, um sie zu stutzen, solange Ionia die Oberhand hat." Als Faust der Schatten war es Mayyms Aufgabe, den Baum zu stutzen – das Ungleichgewicht zwischen der weltlichen Ebene und des Geisterreichs zu eliminieren.

"Wir kommen gerade wieder auf die Beine und du willst, dass wir uns jetzt in die Schlacht stürzen?", sagte der winzige Yordle.

"Kämpfen, um unsere Pflicht als Hüter des Gleichgewichts aufrechtzuerhalten ist der richtige Weg, wie wir wieder auf die Beine kommen", sagte Mayym. "Der Augenblick ist günstig."

Kennen sah sie ungläubig an. Er war das Herz des Sturms und seine Pflicht lag in der Beobachtung des Laufs der Sonne – welches Urteil auch immer hier gesprochen wurde, er musste es allen Kinkou-Mitgliedern in ganz Ionia überbringen.

Faey beobachtete sie voller Respekt aus einiger Entfernung und versuchte, auf dem kühlen Berggipfel nicht herumzuzappeln. Als Teil ihrer Ausbildung nahm sie Mayym zu wichtigen Treffen mit. Faeys Lippen bebten und sie stellte sich vor, wie sie violett anliefen. Sie verstand nicht, wie alle anderen diese schneidende Kälte ignorieren konnten.

Auch verstand sie nicht die Unterschiede in Mayyms Verhalten. Wenn es um ihre Schützlinge ging, ermahnte Mayym oft zur Zurückhaltung, aber wenn es um Gleichgestellte ging, schien sie andauernd nach Handlungen zu drängen.

"Wir wollen die Situation aussitzen", sagte Kennen. "Die Lage ist kompliziert: noxianische Soldaten, die bedroht werden, ionische Verteidiger, die gestern noch erbitterte Feind waren, Vastaya mit ungewisser Loyalität und überall Spione. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen."

"Du warst beim Plazidium? Unerkannt?"

"Wie, dachtest du, ich hab’s nicht mehr drauf?" Er lächelte, und um seine Augen und Klauen knisterten Blitze. Dann wurde sein Tonfall ernst. "Auf dem Rückweg habe ich Berichte über Mitglieder einer Fraktion der Bruderschaft von Navori gehört, die auf dem Weg hierher sind, und zwar nicht mit friedlichen Absichten. Das Tigertattoo ist ihr Zeichen."

Mayym runzelte die Stirn. "Was haben sie vor?"

"Sie ziehen von Dorf zu Dorf und greifen sich die Jungen und Fähigen", erwiderte Kennen. "Und sie setzen gegen jeden Gewalt ein, der es wagt, sich ihnen in den Weg zu stellen."

"So stocken sie ihre Streitkräfte gegen die noxianischen Eindringlinge auf..."

"Ganz genau. Die Finsternis des Krieges hat Ionia in noch nie dagewesener Weise eingenommen", sagte Kennen. "Ehe wir uns versehen, steht sie schon vor der Tür. Wir dürfen uns nicht unbedacht in jede beliebige Schlacht stürzen."

Mayym schüttelte den Kopf. "Die noxianische Invasion von Ionia ist die Hauptursache für das Ungleichgewicht. Für die zunehmenden Todeszahlen. Der Grund, warum das Geisterreich gestört ist. Wenn wir unsere Rolle als Hüter der Mission der Kinkou aufrechterhalten wollen, müssen wir nach Navori gehen."

"Wir sollten nicht vorschnell handeln."

"Sagt der, der sich gerade erst beim Gegner rein- und rausgeschlichen hat."

"Das habe ich getan, damit es keiner von euch tun muss!", blaffte Kennen.

Einen Augenblick lang schien die Luft um sie herum zu gefrieren und Faey hielt den Atem an und wagte es nicht einmal, zu blinzeln.

Der Augenblick ging vorüber und Mayym schaute zur Seite. "Vielleicht hat das Auge des Zwielichts etwas dazu zu sagen?"

Und da, nur wenige Schritte den Hang hinauf, saß auf einer Steinsäule eine lautlose Gestalt. Er trug eine Jacke mit kurzen Ärmeln, die in eine wettergegerbte Hose gesteckt war. An seinem Körper und den Gliedern waren Lederplatten, Metallstreifen und Seidenwickel befestigt. Er trug zwei gekreuzte Schwerter auf dem Rücken, eins aus Stahl, das andere Arkan. Die Maske, die er für gewöhnlich trug, fehlte, aber seine Gesichtszüge lagen dennoch im Schatten seiner Kapuze verborgen, abgeschirmt vom Schein des Mondes.

Shen, dachte Faey finster. Unser Anführer, der stets unentschlossen ist.

"Es ist wahr, dass das Gleichgewicht durch die Gewalt des Krieges verletzt wird, welche auch von den Ioniern entfacht wurde", sagte Shen mit heiserer Stimme, "nicht zuletzt von Zed und seinem Orden."

"Ganz genau. Wir müssen etwas gegen sie unternehmen", drängte Mayym.

"Und doch...", Shen hob seinen vermummten Kopf leicht. "Auch wenn mir jede Faser meines Körpers sagt, all unsere Kräfte gegen Zed aufzubringen, befürchte ich, dass ich die Lage nicht objektiv beurteilen kann. Ich fürchte, dass..." Er zögerte einen Augenblick. "Jene, die sich um Zed versammeln, dienen dem Gleichgewicht wohl auf ihre Art, indem sie gegen Eindringlinge kämpfen, die Ionia zerstören. Wir müssen dieser Frage mehr Beachtung schenken."

Kennen zuckte mit den Schultern. "Wie ich schon sagte, komplizierte Zeiten."

"Ich muss von meinen Gefühlen Abstand nehmen, damit ich ein unvoreingenommenes Urteil fällen kann", schlussfolgerte Shen.

Faey sah eine kleine neblige Wolke, als Mayym einen schwachen Seufzer ausstieß.

"Unser Orden braucht ein Auge des Zwielichts, das uns wirklich führen kann", sagte Mayym kläglich.

Falls Shen ihr diese Aussage übel nahm, zeigte er es nicht. Schließlich war er erst seit kurzer Zeit Anführer der Kinkou, wohingegen Mayym bereits seit unzähligen Sommern Teil des Triumvirats gewesen war.

Wäre Meister Kusho noch am Leben, wäre er von uns zutiefst beschämt. Faey sah auf und versuchte, sich von der Kälte abzulenken. Abgesehen von ein paar Wolkenfetzen war der Himmel sternenklar.

Faey hatte eine Erleuchtung: Shens Pflicht als das Auge des Zwielichts... Seine Sichtweise auf die Sterne musste neutral sein, denn das bedeutete es, die Sterne zu beobachten. Nur so konnte man umfassend informiert sein, bevor man ein Urteil fällte.

Alle Kinkou-Akolythen mussten drei Disziplinen studieren, bevor sie sich für eine entscheiden durften. Die Sterne beobachten, den Lauf der Sonne beobachten und den Baum stutzen – diese Disziplinen hatten übergreifende Bereiche und die Existenz des einen wäre ohne seine Beziehung zu den anderen beiden bedeutungslos. Faey war klar, dass jedes Mitglied des Triumvirats seiner jeweiligen Funktion folgte, wenn es um die Zukunft der Kinkou ging: Kennens Bedacht, falsche Urteile zu vermeiden, Mayyms Drängen zu handeln, um das Ungleichgewicht zu beseitigen und Shens...

Das war die einfachste Aufgabe, nicht wahr? Die Beobachtung von allem, und nichts zu tun. Die Sterne beobachten.

Tatsächlich war schon einige Zeit vergangen und Shen hatte kein weiteres Wort verloren. Er saß einfach nur da, den Kopf gesenkt, so als wären nicht einmal seine Gedanken gegenwärtig.

Ausgehend von der Art und Weise, wie sie heute die aktuellen Probleme diskutiert hatten, spürte Faey, dass sich diese Triade als bedeutungslos erwiesen hatte.

Nachdem Shen gegangen war, gingen die anderen langsam den Hügel hinab.

"Ich habe Verständnis für Shen. Wir haben beide bei Zeds Angriff jemanden verloren, den wir liebten", sagte Mayym. "Aber Zeiten wie diese verlangen nach stärkerer Führung... Vielleicht dürfen wir von ihm nicht erwarten, dass er so großartig wie sein Vater ist." Obwohl sie gleichmäßig sprach, konnte Faey ihren Worten einen Hauch Frustration entnehmen. "Man sollte sich nicht auf Blutsverwandtschaft verlassen, wenn es um die Nachfolge geht."

"Das würde ich so nicht sagen", entgegnete Kennen vorsichtig. Weil er so schnell war, musste er in Kreisen gehen, damit er neben Mayym hergehen konnte. "Manchmal wird Potenzial doch weitervererbt. "Sieh nur dich an."

"Was meinst du damit?", fragte Mayym stirnrunzelnd.

Kennen warf einen Blick zu Faey, die hinter ihnen lief, und zuckte mit den Schultern. "Nichts."

Als Faey die Lagune wieder erreicht hatte, war der gesamte Tempel bereits im Schlaf versunken, abgesehen von den Akolythen, die Wache hielten.

Leise näherte sie sich der Hütte, die sie mit einigen anderen Neophyten teilte. Dort sah sie Akali, die allein auf den Steinplatten vor der Behausung saß. Das kleine Mädchen hatte ihr Nachthemd an. Sie nannte es gern einen Shiipo, das Wort für einen blumigen Umhang, wie ihn Kinder während des Fests trugen. Tatsächlich aber war es lediglich eine grob gesponnene Robe aus beigefarbenem Garn, die sie von ihrem Vater, Tahno, einem weiteren Opfer von Zeds Rebellion, bekommen hatte.

"Was machst du hier?", fragte Faey leise.

Akali richtete sich auf und freute sich über Faeys Rückkehr. Das kleine Mädchen holte ein Stück Trockenobst aus ihrer Tasche hervor. "Ich möchte dir das hier geben."

"Eine Pflaume?" Faey nahm sie voller Verwunderung an. "Wieso? Ich dachte, das Abendessen fällt heute für uns aus."

"Die hab ich schon seit ein paar Tagen."

Faey machte große Augen. "Du hast Essen aufgehoben?"

Akali blickte schuldig drein und zuckte mit den Schultern, antwortete aber nicht. Ihre Schultern zitterten.

Sie hat Angst, erkannte Faey, während sie auf das Trockenobst starrte. Warum?

"Ich möchte ein wenig Essen aufheben", sagte Akali. "Vielleicht werden wir es eines Tages brauchen. Du weißt schon... falls... falls wieder böse Leute kommen."

Sie hat Angst davor, dass jeden Moment wieder Feinde auftauchen könnten und wir dann ohne Essen fliehen müssen...

"Ich will nicht, dass unsere Familie auseinandergerissen wird", sagte Akali. "Ich will niemanden mehr verlieren."

Plötzlich stiegen Faey Tränen in die Augen, aber sie hielt sie entschlossen zurück. Sie hatte ihre Eltern schon vor langer Zeit an die Missionen des Ordens verloren und sich nach unzähligen, verweinten Nächten geschworen, nie wieder eine Träne zu vergießen. Aber sie konnte Akali verstehen. Sie waren auf gewisse Weise Geschwister, da Akalis Mutter viel mehr Zeit mit Faey als mit ihrer eigenen Tochter verbrachte.

Faey biss die Hälfte der Pflaume ab und gab Akali den Rest zurück. "Das isst du bitte."

Eine Wut kochte in ihr hoch, die Faey sonst fremd war. Sie verstand einfach nicht, warum das alles so passiert war. Wenn der Orden der Kinkou tatsächlich so eine wichtige Rolle in Ionia einnahm, wie aus den Lehren hervorging, warum mussten sie dann so leiden?

"Geh lieber schlafen." Sie zerzauste Akali die Haare und umarmte sie dann lange, ohne eine Träne aus ihren Augenwinkeln entwischen zu lassen.

In den nächsten Tagen übte Faey verbissen das Bogenschießen. Sie war frustriert – wegen Shen, wegen Mayym, weil sie sich weigerte, sie zum Akolythen zu machen, wegen ihrer eigenen Hilflosigkeit, einfach wegen allem.

Mit ihrem Bogen zu arbeiten, erschien ihr am sinnvollsten. Wenn sie nicht gerade Tarnen geübt, gelernt oder Pflichten erfüllt hat, verbrachte Faey die meiste Zeit auf dem kleinen, von den Akolythen errichteten Bogenschießplatz.

Mayym war auf eine ihrer Missionen aufgebrochen. Kennen leitete die Verteidigung und Wartung des Zufluchtsorts an der Lagune, aber Faey hatte ihn oft beim Spielen mit Akali erwischt, wobei er mit dem kichernden kleinen Mädchen herumrannte, herumsprang und stumpfe Wurfsterne warf.

Eines Tages suchte Hisso Faey während einer ihrer meditativen Bogenschießübungen auf. "Wir spielen Geist im Wald im südlichen Tal. Komm doch mit", sagte sie.

"Im südlichen Tal?" Faey wandte ihren Blick vom Übungsziel ab und senkte ihren Bogen. "Das würde Mayym gar nicht gerne sehen."

Das Tal war weitläufig und voller Pflanzen, hier und da ragten lose Felsbrocken und verlassene Steinwälle dazwischen auf. Das war gefährliches Terrain und die Dorfbewohner von Xuanain hatten die Kinkou gewarnt, dass es dort in den vergangenen Jahrzehnten einige große Erdrutsche gegeben hatte.

"Na ja, darum machen wir das ja auch, wenn Mayym nicht da ist", erklärte Hisso ihr. "Du weißt doch, dass das Spiel dort am spannendsten ist. Komm schon, die anderen sind schon dort."

Faey zögerte, aber dann sagte sie: "Na gut. Einen Satz Übungen muss ich hier aber noch abschließen. Ich komme nach."

Als die Neophytin wieder gegangen war, atmete Faey tief ein und stabilisierte ihren Oberkörper. Sie brachte ihre Füße in die richtige Position und hielt ihren asymmetrischen Bogen wenige Handbreit vom Boden hoch, um ihm die maximale Kraft zu entlocken.

Damit ein zukünftiger Kinkou-Krieger eine Waffe vollends beherrscht, muss er zwei Aspekte verinnerlichen: den meditativen und den kampfpraktischen – das Neio und das Neiyar. Faey hatte das Neio und Neiyar mit ihrem Bogen bereits trainiert, seit sie fünf Sommer zählte, um eines Tages eine große Bogenschützin zu werden.

Da sie noch nie einem echten Gegner begegnet war, der es auf ihr Leben abgesehen hatte, drehte sich das Neiyar natürlich nur um die Jagd auf Tiere und um Duelle gegen ihre Ausbilder. Meistens sollte sie jedoch auf dem Bogenschießplatz bleiben, um an ihrem meditativen Neio zu arbeiten, jedoch hasste sie diese Aufgabe, weil sie bereits nach ein paar Schüssen Langeweile überkam.

Neuerdings war dem allerdings nicht so. Sie brauchte das Neio, um ihre innere Ruhe zu finden.

"Wenn du eine tödliche Waffe in der Hand hältst, schärft diese zuallererst deinen Verstand", hat ihr Mayym beigebracht. "Beruhige deine Gedanken und konzentriere dich auf jede deiner Bewegungen."

Doch als Faey beide Arme in einer präzisen Bewegung über den Kopf hob, wütete ein Strudel der Verwirrung in ihrem Kopf.

Warum können wir Zed nicht bezwingen? Sie streckte ihren Bogenarm aus.

Warum muss Shen derjenige sein, der uns anführt? Sie spannte ihre Rückenmuskeln an und spannte den Bogen.

Was ist im Tempel an dem Tag, als Meister Kusho starb, wirklich geschehen? Die Erwachsenen verloren darüber nie ein Wort. Wussten sie es überhaupt? Sie pausierte mit voll gespanntem Bogen, einem Moment höchster Konzentration, in dem ein Bogenschütze den wahren Geist dieser Kunst spüren sollte. Doch sie spürte nur brennende Wut.

Die Pause dauerte nicht länger als einen halben Atemzug, bevor sie den Pfeil auf seine Reise schickte. Er traf den Rand der Zielscheibe mit einem schwachen Rumms.

Faey seufzte und ließ die Schultern hängen.

Wir sind die Hüter zweier Reiche, und dennoch tun wir nichts, wenn diese Reiche unsere Hilfe benötigen. Wir beobachten lediglich die Sterne.

Sie schloss ihre Augen und versuchte, ihren Kopf frei zu bekommen, indem sie mit zwei Fingern über ihren Bogen und dann den Pfeil strich.

Mayym hatte einmal gesagt: " Wenn du diese Waffen hältst, wurde dir eine Tradition anvertraut: eine Tradition, die durch Generationen von Bogenschützen in heiliger Lehre in direkter Linie aufrechterhalten wird.

Faey atmete langsam ein und zwang sich dabei, an die Bauweise ihres Bogens zu denken. Er war asymmetrisch, weil die Bogenschützen der Kinkou vor langer Zeit erkannt haben, dass ein längeres Oberteil den Bogen stabiler machte und ein kürzeres Unterteil geräuschärmere Bewegungen in Gebieten mit dichtem Wildwuchs ermöglichte. Faey gehörte zur jüngsten Generation, die von dieser Weisheit profitieren sollte.

Generationen von Bogenschützen. Eine direkte Linie heiliger Lehre.

Demütig öffnete Faey die Augen und ging auf das Übungsziel zu. Sie blieb dreieinhalb Schritte davor stehen, so nah, dass sie die Zielscheibe unmöglich verfehlen konnte. So konnte sie sich voll und ganz auf ihre Bewegungen konzentrieren und sie somit eleganter und feiner gestalten.

Kampf ist Kommunikation, sagte eine Stimme in ihrem Kopf. Es geht immer um den Dialog.

Es war die Stimme von Meister Kusho aus einer Zeit, als er mit Faey und den anderen Kindern ganz herzlich sprach. Das schien... schon so lange her zu sein.

Die Kunst des angewandten Kampfes bereitet einen Krieger auf externe Gegner vor und das vergossene Blut bildet die Kalligrafie des Konfliktdialogs. Doch nur durch vorausschauende Betrachtung seiner selbst kann ein Krieger seinen Verstand gegen den Gegner in seinem Inneren vorbereiten.

Ein Dialog mit einhundert Versionen von dir.

Faey hob ihre Arme, senkte sie ganz ruhig und spannte den Bogen erneut. Sie pausierte, als ein zeitloser Strudel ihr Bewusstsein einsog.

Als die Gedanken verstummten, begann der innere Dialog der Seele.

Als sie das nächste Mal blinzelte, steckte der Pfeil genau in der Mitte der Zielscheibe.

Sie nahm einen weiteren Pfeil aus dem Köcher, und dann noch einen, jeder Schuss war eleganter als der letzte, ihre Gestalt von ausgesprochen hoher Reinheit.

Doch während sie sich ihren Übungen widmete, schlichen sich neue Gedanken in ihren Kopf.

Vielleicht wissen die Erwachsenen auch nicht alles.

Vielleicht sind sie genauso verwirrt wie ich.

Vielleicht ist es egal, wer uns anführt, solange wir als eine Familie zusammenhalten.

Vielleicht... kann ich einfach gerade nichts tun, um dabei zu helfen, das Gleichgewicht wieder herzustellen. Faey schoss ihren letzten Pfeil ab. Und vielleicht ist das in Ordnung so...

Sie blieb noch eine Weile in ihrer Haltung stehen. Die aufgewühlten Emotionen hatten sich aufgelöst und einen Verstand hervorgebracht, der so ruhig wie die Lagune am frühen Morgen war. Ein solches Gefühl des Friedens verspürte sie nur selten.

Die Sonne hatte bereits ihren Zenit erreicht, als sie sich auf den Weg zum südlichen Tal machte. Einige der Akolythen führten am Rand des Waldes ihre eigenen meditativen Kampfübungen aus, als Faey an ihnen vorüberging, und plötzlich verstand sie ihr Tun ein bisschen besser.

Dann folgte sie dem gewundenen Pfad zum Spielplatz der Neophyten. Es war kein kurzer Marsch. Faey hatte beschlossen, dass ihr heute nicht danach war, beim Spiel mitzumachen, aber sie musste den anderen einfach Bescheid geben, damit sie nicht bis Sonnenuntergang auf sie warteten.

Als Faey am Rand des Tals ankam, waren die Neophyten seltsamerweise nicht da.

Sie spitzte die Ohren, aber es war kein Geschrei oder Geraschel in den Büschen zu vernehmen. Die einzigen Geräusche waren das Zirpen der Grillen und ein gelegentlicher Windhauch.

Irgendetwas stimmt nicht.

Faey nahm ihren Bogen und hielt einen Pfeil bereit, als sie sich hinunter ins Tal begab. Da er wohl Jahrhunderte lang nicht mehr von Menschen bewohnt war, wurde dieser Hang des Berges von wilder Vegetation überwuchert. Stücke eingefallener Steinmauern blitzten hier und dort hervor, die noch nicht von Lianen und Blättern bedeckt waren.

Als sie ihre Suche fortsetzte, gab das Grün unter ihren Füßen einen Weg für ihre nervösen Schritte frei.

Ein Pfeifen erschreckte sie – dann sah sie, dass es hinter den Steinruinen herrührte. Ein Neophyt steckte seinen Kopf hervor, winkte sie herüber und gab ihr ein Zeichen, dass sie leise sein soll.

Faey duckte sich tief und bewegte sich rasch zu ihm herüber. Sie stellte überrascht fest, dass sich dort noch andere Neophyten versteckt hielten und alle düster dreinblickten. Sie sah auch Akali, die unter einem großen, breitblättrigen Baum stand und entgegen ihres Naturells ganz still war.

Einer der älteren Jungen zeigte mit dem Finger hangabwärts.

Dann sah Faey sie auch. In reichlicher Entfernung war eine Gruppe von mindestens zwanzig Kriegern zu sehen, die in das Tal gelangt waren. Sie hatten Tigertattoos auf Brust und Armen und Faey verstand sofort, was das bedeutete.

Das war die Bruderschaft der Navori.

"Was sollen wir jetzt tun?"

Die Neophyten hatten sich um Faey versammelt. "Wir müssen die Erwachsenen warnen", sagte Xenn, ein kleinerer Junge.

Ohmi schlug vor, die Eindringlinge zu bekämpfen, doch die skeptischen Blicke der Anderen wiesen ihn in die Schranken. Außer Faey hatte niemand seine Waffen dabei, und wenn zehn Neophyten zwanzig gefährlich aussehenden Schlägern gegenüberstanden, war der Ausgang der Schlacht vorherbestimmt.

Die Akolythen zu warnen schien ihre einzige Option zu sein, doch Faey zögerte.

"Worauf warten wir noch?" wollte Xenn wissen. "Gehen wir zurück."

"Wartet...", sagte Faey. "Das können wir nicht tun." Alle starrten sie an und fragten sich, was sie damit meinte. Faey wiederum starrte die Krieger an, die nur langsam vorankamen. Wenn die Akolythen auftauchen, wird es Tote geben. Das würde dem Gleichgewicht noch mehr schaden.

Abgesehen davon war der Gedanke, noch ein Mitglied ihrer Kinkou-Familie zu verlieren, einfach unerträglich.

Faey überflog das Gebiet und kam zu einem Entschluss. "Wir müssen sie aufhalten, und zwar hier und jetzt."

"Was? Wie denn?", fragte Akali mit aufgerissenen, braunen Augen.

"Indem wir sie dazu bringen, sich zu entschließen, nicht weiterzuziehen", sagte Faey. "Ich weiß, warum sie hier sind: Sie wollen Leute gefangen nehmen und sie dazu zwingen, gegen die fremden Eindringlinge zu kämpfen. Wenn sie also erkennen, dass hier niemand ist, werden sie abziehen."

"Wie sollen wir das anstellen? Dort runtergehen und es ihnen sagen?" fragte Yajiro.

"Nein, natürlich nicht." Faey runzelte die Stirn. "Erinnert ihr euch an das Jagdspiel, das wir gespielt haben, um den Silbereber in einen Hinterhalt zu locken?" Alle nickten. "Wir spielen es noch einmal. Nur, dass wir uns diesmal nicht zeigen. Wir machen den Ruf der Graueule nach."

"Ein schlechtes Omen", sagte Ohmi.

"Ganz genau", sagte Faey. "Das sind Ionier – sie werden wissen, dass dieser Ruf bedeutet, dass das Gebiet mit böser Magie verflucht ist und hier unmöglich ein Dorf sein kann."

"Ja, aber sie sind Ionier", zweifelte ein Mädchen namens Isa. "Was ist, wenn sie uns durchschauen?"

"Nun, das werden wir wohl noch früh genug erfahren." Faey sah sie alle nacheinander an. "Falls jemand geschnappt wird, sagt kein Wort über die Lagune. Sagt einfach, dass ihr euch verlaufen habt. Sie werden uns in Ruhe lassen, Kinder suchen sie ja nicht." Das war eine halbe Lüge.

Alle nickten nervös.

"Also gut, schwärmt aus. Nehmt die Lianen und versteckt euch in den Bäumen."

Akali wollte sich gerade aufmachen, als Faey sie an der Schulter zurückhielt.

"Akali, bleib am Boden. Ich habe eine ganz wichtige Aufgabe für dich. Ich weiß, dass du sie am besten ausführen kannst." Das kleine Mädchen hielt inne und schaute überrascht. Faey fuhr fort: "Aber zuerst musst du mir versprechen, dass du nicht herumrennen wirst und unseren Plan wieder vereitelst."

Akali nickte eifrig. "Ich versprech’s."

"Sollte unser Plan fehlschlagen – wenn du siehst, dass sich die Bruderschaft von unseren Eulenrufen nicht beeindrucken lässt und einfach weiter vorrückt –, dann läufst du, so schnell du kannst, zu den Erwachsenen und erzählst ihnen alles." Faey umklammerte ihren Bogen fester. Und wenn das passiert, halte ich dir den Rücken frei. "Also, versteck dich irgendwo ganz hinten und beobachte alles. Schone deine Kräfte für den Fall, dass du sie brauchst."

"Okay." Akali zitterte, aber ihre Augen glänzten auch vor Aufregung.

Faey stellte sicher, dass sich alle Anderen in einem breiten Halbkreis positionierten, der den Weg der Eindringlinge flankierte. Dann machte sie sich selbst auf den Weg.

An der östlichen Seite des Tals versprach ihr eine Anhöhe aus großen Felsbrocken eine ungehinderte Sicht auf das Gebiet. Dort sollte sie Stellung beziehen.

Sollte etwas schiefgehen, konnte sie von dort oben einen tödlichen Schuss abgeben.

Die Kinkou-Neophyten knoteten einer nach dem anderen lange, kräftige Lianen um sich herum. Die Lianen antworteten auf ihre Art, indem sie sie zu den Astgabeln hinaufhoben, wodurch die Neophyten schnell und sicher aufsteigen konnten.

Faey begab sich auf die im Schatten liegende Seite der Anhöhe, wo sie sich hinter den größeren Felsbrocken vor den Blicken der Eindringlinge verstecken konnte. Sie stieg den Hang ängstlich, aber schnellen Schrittes hinauf, bis sie schließlich den höchsten Punkt erreichte: eine ausreichend große Steinplatte, von der aus man das Tal ideal beobachten konnte.

Sie suchte nach Akali, konnte sie aber nirgendwo finden.

Gut, dachte sie. Bäuchlings auf der Steinplatte liegend richtete sie ihre ganze Aufmerksamkeit auf die Eindringlinge. Sie hatten fast den Punkt erreicht, an dem sie sie haben wollte. Auf ihrem Vormarsch metzelten sie sich durch Gestrüpp, Dornsträucher, hohes Gras und alles, was sich ihnen sonst noch in den Weg stellte, und machten so viel Lärm, dass Faey sicherlich auch einen Stein lostreten könnte, ohne dass es jemand bemerken würde. Der Krieg musste sie verändert haben. Genau wie die fremden Eindringlinge hatten sie keinen Respekt mehr für die Natur. Sie hatten vergessen, was es bedeutet, ein Ionier zu sein.

Aus dem Augenwinkel heraus sah sie, dass Ohmi immer noch am Boden war.

Was macht er denn? Sie starrte ihn an und bedeutete ihm, sich zu beeilen.

Er geriet in Panik und hatte Probleme, eine schlaffe Liane um seine Hüfte zu knoten, als der erste Krieger nur zehn Schritte entfernt einen umgestürzten Baumstamm emporstieg. Seltsamerweise erwies sich keine der Lianen an diesem Baum als hilfreich, also kletterte Ohmi kurz entschlossen mit bloßen Händen den Baum hoch.

Faey stand die Angst förmlich ins Gesicht geschrieben, aber sie erinnerte sich rasch an ihren Alternativplan. Schnell spannte sie einen Pfeil in ihren Bogen.

Die Eindringlinge hackten sich mit ihren Stangenwaffen weiterhin gewaltsam durch Büsche und Sträucher, um sich einen Weg durchs Dickicht zu bahnen. Der Rest des Tals blieb unheilvoll still, sodass ihre Flüche direkt an Faeys Ohren drangen, laut und klar.

Schließlich gelang es Ohmi, auf den Baum zu klettern und zu verschwinden. Faey hatte gar nicht bemerkt, dass sie die Luft angehalten hatte, und gab einen Stoßseufzer von sich. Dann atmete sie tief ein.

Mit einem einzigen, kraftvollen Atemstoß gab Faey einen schrillen Schrei ab, der die unberührte Luft durchdrang.

Einige der Krieger hielten inne.

Faey kreischte erneut und Echos aus allen Richtungen erfüllten das Tal mit Leben.

Jetzt hielt jeder der Eindringlinge inne und beobachtete nervös die Umgebung. Sie begannen zu diskutieren.

"Dieser Ort ist verflucht. Ich höre Graueulen."

"Ich habe doch gesagt, dass hier nichts zu holen ist!"

Die bedrohlich aussehenden Krieger an der Spitze gingen unbeirrt weiter. Trotzdem zögerte ein Teil der Gruppe noch immer. Die Kinkou-Neophyten versuchten, ihre Zweifel noch weiter zu bestärken, indem sie eine weitere Runde unheilvoller Schreie ertönen ließen.

Selbst die Bäume seufzten hörbar, indem sie die Blätter wogten und mit den Ästen ächzten und so zusammen mit den Neophyten ein unheilvolles Konzert des Grauens gaben. Einige der Krieger traten den Rückzug an.

Es klappt! Faey konnte es kaum glauben.

Der Anführer der Gruppe befahl den Rückzug. "Dieser Ort ist verflucht. Verschwinden wir von hier." Als sie davonstapften, schwangen einige von ihnen wütend ihre Sichelklingen und schlugen damit einige Äste ab, die sich auf unheimliche Weise näherten.

Ein langer, krummer Ast fiel herunter und schlug einem der Schläger ins Gesicht. Alle machten kehrt und rannten davon.

Faey hielt ihre Stellung auf dem Felsen noch einen Moment lang, um sicherzustellen, dass ihre Freude nicht ihre Sinne trübte. Von den anderen Neophyten war ebenfalls kein Laut zu hören. Wahrscheinlich warteten sie genau wie Faey, bis die Luft rein war, um wieder zum Vorschein zu kommen.

Als genug Zeit vergangen war, sprang Faey auf. "Wir haben es geschafft!"

Doch niemand antwortete. Einen langen Moment lang war nur Stille zu vernehmen, die durch Knackgeräusche durchbrochen wurde.

"Hallo?" Das Tal sah plötzlich dunkler aus, obwohl die Sonne immer noch hoch am Himmel stand.

Etwas fiel aus dem Blätterdach und blieb mitten in der Luft hängen. Es war Isa – ihre Augen vor Schrecken weit aufgerissen, ihre Arme von windenden Lianen an ihren Körper gefesselt. Das Ende einer dieser Lianen würgte sie.

Etliche weitere Kinder fielen durch die Blätter und hingen in gleicher Weise in der Luft. Zwei Neophyten stürzten direkt auf den Boden, ihr Aufprall wurde lediglich von Sträuchern abgefangen. Auch sie waren von Lianen gefesselt und versuchten vergeblich, sich zu befreien.

Bevor Faey verstand, was sich gerade abspielte, erwachte das Tal zum Leben – ein riesiger Baumstamm drehte sich heftig und nahm schließlich die Gestalt einer gewaltigen Kreatur an. Büsche und Sträucher entwurzelten sich selbst und krochen auf sie zu. Ihre Blätter bildeten die Haut, Erde und Geröll an ihren Wurzeln bildeten die Muskeln. Dunkle Lianen schlängelten sich an der Kreatur empor und bildeten eine Art Gitter, wie ein Netz aus pulsierenden Adern.

Das Monstrum hatte vier Arme und in der Mitte seiner "Brust" war ein gebrochener Baumstamm, hohl und verrottet, welcher das Bild einer leeren Augenhöhle oder eines weit geöffneten Mundes abgab. Mindestens drei Kinder waren halb in seinen bizarren Körper eingebettet und wurden von merkwürdig zuckenden Ästen festgehalten.

Ein verderbter Geist. Faey erstarrte auf ihrer Steinplatte.

Die Kinkou hatten von solchen Vorkommnissen in anderen Teilen Ionias gehört, die eine Begleiterscheinung des grausamen Krieges gegen Noxus darstellten. Aber niemand hätte je gedacht, dass so etwas auch hier passieren könnte.

Die Bruderschaft der Navori muss das Gleichgewicht kontaminiert haben. Nun sickerten wohl die dunklen Kräfte des Geisterreichs durch diese Kluft und vergifteten das südliche Tal.

Faey öffnete ihre Hüfttasche, in der sie magisches Pulver zur Abwehr von bösen Geistern aufbewahrte. Dies würde seine erste Anwendung im praktischen Kampf sein. Und das Leben ihrer Freunde stand auf dem Spiel. Sie beruhigte ihre Gedanken und bestäubte ihre Pfeilspitzen mit dem Pulver.

Das Neio hatte ihre mentale Kraft bestärkt. Jetzt würde sie darauf vertrauen müssen, dass ihr Muskelgedächtnis aus den akribischen Neiyar-Übungseinheiten aktiviert werden würde.

Ohmi hat sich aus den Lianen befreit und stolperte über den wankenden Boden. Als er losrannte, streckte das Monster einen Arm in Ohmis Richtung aus, pflanzliche Tentakel, die sich wie ein windendes Netz öffneten. Faey feuerte einen Pfeil ab und traf den Arm gerade noch, bevor er Ohmi erreichte. Goldene Strahlen blitzten aus der Wunde und das Monster richtete sich auf. Der Arm zerfiel in tote Blätter, Zweige und Staub.

"Lauf! Hol die Akolythen!" rief Faey Ohmi zu. Er floh aus dem Tal, ohne auch nur zurückzusehen.

Faey hörte ihren eigenen Herzschlag in den Ohren widerhallen. Sie wusste, dass, egal wie schnell Ohmi rannte, die Akolythen frühestens in einer Viertelstunde hinzustoßen könnten. In ihrem Köcher befanden sich lediglich dreizehn Pfeile.

Wie soll ich dieses Ding in Schach halten?

Der zerfallene Arm des Monsters hatte sich wieder erneuert und mit jedem Augenblick wuchs sein Körper weiter an, da immer mehr Vegetation durch eine unsichtbare Kraft zu ihm gezogen wurde.

Faey feuerte einen weiteren Pfeil ab und, noch bevor dieser sein Ziel traf, einen weiteren. Die beiden Pfeile bohrten sich in den Körper des Monsters. Sofort strömte blendendes, goldene Licht aus den Wunden im zerspringenden Oberkörper, als mehrere Schichten vermoderter, gewebeartiger Äste von ihm abfielen. Die eingeschnürten Kinder kamen aus ihrem Gefängnis frei und fielen auf den Boden.

Die Neophyten versuchten, sich gegenseitig bei der Flucht zu helfen, indem sie von klebrigem, dunklem Harz bedeckte Lianen und Gestrüpp voneinander herunterzerrten. Das Innere des Monsters explodierte unter bebendem Donnern und verteilte unzählige schnellwüchsige Arme in alle Richtungen, wie ein Springbrunnen aus lebendigem Holz.

Die meisten der Neophyten wichen den hölzernen Klauen aus, aber zwei von ihnen – Isa und Taij – wurden geschnappt und schrien, als sie in Richtung des wiederhergestellten Monsterschlunds gezogen wurden.

Mit den nächsten paar Schüssen konnte Faey entweder den fünf befreiten Neophyten Feuerschutz bieten, damit diese fliehen können, oder sie konnte versuchen, damit Isa und Taij zu befreien.

Was soll ich nur tun? Sie zögerte nur einen Moment und schon wurde Xenn geschnappt. Die anderen zerstoben in alle Richtungen und schrien vor Panik.

"Weg hier! Lauft alle zurück zum Tempel!" Faey rettete Xenn mit einem Pfeil. Dann feuerte sie weiter auf die Pflanzententakel, die sich nach den fliehenden Neophyten ausstreckten. Sie wusste, sie würde Isa und Taij verlieren, die bereits fast von dem zerklüfteten, ausgehöhlten Schlund des Monsters verschlungen wurden. Sie knirschte mit den Zähnen und schaute weg.

Dann sah sie Akali.

Inmitten des Chaos aus weglaufenden Kindern, herumfliegendem Holz, fallender Blätter und verschiedenster bösartiger Pflanzen lief das kleine Mädchen auf das Monster zu .

Faey schaute ungläubig zu und war sich plötzlich nicht mehr sicher, wohin sie zielen sollte.

"Haaheeyy!" Akalis Stimme hallte durch das Tal. Sie wich einer Peitsche aus lebenden Lianen aus und sprang über ausschlagende Baumstämme hinweg.

Dann dämmerte Faey etwas – Gefahren vergingen, aber Akali wurde nicht gefangen. Irgendwie gelang es ihr, allen Fangversuchen der deformierten Klauen durch Ducken und Wegrollen auszuweichen. Der böse Geist lenkte seine Aufmerksamkeit nun auf Akali und vergaß, dass Isa und Taij direkt vor seinem Schlund hingen.

"Akali, du Dummkopf! Lauf weg!" schrie Faey. Doch obwohl sie Akalis Dummheit verurteilte, bewegte sich Faey von ihrer Steinplatte weg und spannte einen weiteren Pfeil in ihren Bogen.

Sie wusste, was sie zu tun hatte.

Akali hatte furchtbare Angst. Riesige, gekrümmte Äste fielen vom Himmel und landeten überall um sie herum. Dennoch lief sie immer weiter.

Sie hatte versprochen, sich nicht in Faeys Versuch, die großen bösen Krieger zu vertreiben, einzumischen. Den Plan hatte sie auch nicht durchkreuzt. Aber Faey hatte nichts von einem riesigen, hässlichen, verrückt spielenden Baumgeist gesagt. Und jetzt folgte Akali ihrem Instinkt – die anderen Kinder aus dieser grünen Hölle herauszuholen.

Sie sah Hisso, die in einem Netz aus Gestrüpp gefangen war. Als sie versuchte, sie zu befreien, verdunkelte sich der Himmel und Akali verschlug es den Atem. Eine kolossale Hand aus sich windenden Ästen rauschte auf sie herab und drohte, sie beide gleich zu zermalmen. Doch dann durchbohrte ein Pfeil die Hand und ließ goldene Funken aus ihr heraussprühen.

Inmitten einer herunterkommenden Decke aus welken Blättern zog Akali Hisso in Sicherheit. Sie sah in der Ferne, dass Faey von ihrem Felshang heruntersprang und einen weiteren Pfeil aufspannte. Dann erspähte Akali einen älteren Neophyten, Yajiro, der inmitten eines Haufens zerbrochener Stämme saß und sich die Augen ausweinte.

Akali rannte zu ihm, den wütenden Hieben des Monsters ausweichend, und trat ihm in den Hintern. "Du! Verschwinde von hier!" Sie schubste ihn vorwärts.

Sie wusste, irgendetwas hatte sich verändert. Das Monster richtete all seine sich windenden Arme nun auf sie. Solange sie also auf den Beinen blieb, würden die anderen Kinder sicher sein.

Während Akali sprang und sich duckte und auswich und herumrollte, wurde sie immer sicherer bei diesem Spiel. Ein Teil von ihr – der Teil, der keine furchtbare Angst hatte, – wollte kichern. Das Monster war langsam. Wäre Kennen hier, dann würde er beim Ausweichen der Angriffe genüsslich eine Schüssel Nudeln verspeisen.

Weitere Pfeile von Faey pfiffen über ihren Kopf hinweg und trafen das Monster, dessen Arme sofort zerfielen. Isa und Taij fielen auf den Boden: zwei in Lianen gewickelte, schluchzende Häufchen.

Akali machte sich auf den Weg zu ihnen und freute sich, dass sie und Faey so gut zusammenarbeiteten. Das könnte den ganzen Tag so weitergehen.

Jetzt wird mich Faey sicher auf alle Missionen mitnehmen. Mutter wird sich freuen!

Dann begann das Tal noch heftiger als zuvor zu beben. Große, bösartige Wurzeln peitschten wie scheußliche Schlangen auf den Boden, warfen die Erde auf und setzten dabei faule Dämpfe frei, die Akali ihre Nase rümpfen ließen. Ein Wall aus schlagendem Holz umkreiste sie, dass ihr schwindlig wurde, und versperrte ihr den Weg.

Oh-oh.

Faey sprang von Fels zu Fels, um ihre Sichtlinie anzupassen, damit ihre Sicht auf Akali frei war. Als der böse Geist dem kleinen Mädchen nachgejagt war, hatten Faeys Pfeile jegliche Gefahr beseitigt.

Ihre zufällige Zusammenarbeit hatte für die anderen Neophyten ein Fluchtfenster geöffnet, durch das sie aus dem Tal fliehen konnten.

Doch jeden Moment konnte alles schiefgehen. Faey hatte nur noch drei Pfeile übrig.

"Akali, du musst weg, sofort!" Faey rief, so laut sie nur konnte.

Die Felsen unter ihren Füßen bebten, als würde die Erde krampfhaft zusammenzucken. Einige Herzschläge später sah sie, dass Akali in einer Kuppel aus bösen Wurzeln eingeschlossen war.

Der steinige Hang, auf dem Faey sich befand, brach auseinander und die große Platte auf dessen Spitze stürzte herunter. Faey sprang zwischen zwei Felsen, um ihr auszuweichen. Dabei feuerte sie einen Pfeil ab, der in die Seite von Akalis Gefängnis ein Loch bohrte, und dann einen weiteren, der die riesige Faust abwehrte, die sich gerade auf das fliehende Mädchen stürzen wollte.

Doch bevor Faey ihren letzten Pfeil in den Bogen spannen oder einen weiteren Schritt tun konnte, überrollte sie lawinenartig der ganze Hang.

Ein ohrenbetäubender Lärm. Der Lärm herabstürzender Steine. Sie schrie, als das Geröll sie wie Fäuste traf und von einem unerträglichen Schmerz, der sie bis ins Mark erschütterte, gefolgt wurde.

Als der Erdrutsch zum Stehen kam, lag Faey zitternd inmitten blutbefleckter Felsbrocken mit dem Geschmack von Eisen im Mund. Das Brennen wurde stärker. Sie konnte kaum die Augen öffnen und was sie sah, ergab keinen Sinn.

Ihr Bogen war zersprungen. Und dort, wo ihr rechtes Bein gewesen war, war nicht mehr als eine blutrote Masse, die an den Steinen und auf dem Gras feuchte Spuren hinterließ.

Sie vergrub ihr Gesicht in der Erde, dann verdunkelte sich ihr Bewusstsein.

Akali schleifte Isa und Taij an den Füßen über den hügeligen Boden des Tals – sie hatte keine Zeit gehabt, die Fesseln der beiden zu lösen. Das Monster war noch schrecklicher geworden, aber Akali war noch nicht bereit, aufzugeben.

"Ich will niemanden mehr verlieren, niemals, verstanden?", schrie sie Isa und Taij, aber auch sich selbst an. "Ich will, dass wir alle zusammen bleiben, für immer!"

Der verderbte Waldgeist – ein gewaltiger, unförmiger Haufen aus abscheulichen Dingen – jagte ihr nach und pflügte dabei das ganze Tal um.

"Faey!" Akali sah das bewusstlose Mädchen direkt vor sich inmitten verstreuter Felsbrocken liegen. Oh nein, jetzt muss ich drei Leute hier herausziehen. Sie biss die Zähne zusammen und pflügte durch den aufgewühlten Boden, bis sie bei ihrer Freundin war.

"Faey, steh auf! Wir brauchen—"

Die Worte blieben ihr im Hals stecken, als ihr Blick auf Faeys Unterkörper fiel. Akali ließ die beiden Neophyten los, die wild auf etwas einschrien.

"Faey...", Akali erstarrte, ihr Kopf war leergefegt.

Dann drehte sie sich um, um zu sehen, warum Isa und Taij so ein Theater machten. Es war der wütende Baumgeist, der über ihnen emporragte.

Drei Freunde. Keine Waffen. Keine Hilfe. Akali sah das Monster mit leerem Blick an, während ihre Hand den kleinen Kunai-Anhänger umklammerte.

Ein knorriger Arm schwang auf sie zu. Bevor sie sich überhaupt bewegen konnte, prasselte ein Schwall Kunai auf die Faust des Riesen nieder. Lichter blitzten. Holzsplitter flogen in alle Richtungen. Akali hätte nie gedacht, dass das Monster heulen könnte, aber genau das tat es jetzt und stieß wütende Schreie aus seinem hohlen Inneren aus.

Ein Schatten landete auf seinem zerrissenen Arm.

Mutter! Akalis Augen weiteten sich.

Mayym sprintete entlang der zerrütteten Brücke aus Holzstücken. Der verderbte Geist versuchte, sie mit zwei anderen Armen zu zermalmen, aber sie sprang in einem eleganten, tödlichen Bogen durch die Luft und ließ noch mehr Kunai auf das Monster niederregnen. Die Arme des Monsters explodierten unter dem Beschuss der verzauberten Wurfpfeile und ließen seelenlose Überbleibsel durch die Luft sausen, als Mayym gewandt auf der Baumkrone des Geists landete.

Überall um Akali herum knisterte die Luft. Bögen aus violetten Blitzen erschienen und zogen sich in Wellen um das Monster. Von einem Augenblick auf den anderen war der Riese an der Taille geteilt.

Der böse Geist ordnete seinen Körper neu, aber Kennen war da und befeuerte ihn mit einem Hagel aus Lichtblitzen. Über ihm hob Mayym ihre Phantomsichel und – mit einem glatten Hieb – spaltete das Monster von der Spitze bis zur Körpermitte.

Das südliche Tal wurde still.

Akali war in Ehrfurcht erstarrt. Das Monster war einfach so fort und hinterließ lediglich einen Haufen aus vermoderten, triefenden Pflanzen. Dennoch begannen einige Zweige in der Nähe erneut schwach zu zucken...

"Es ist noch nicht vorüber."

Akali spähte über ihre Schulter und sah, von wem die Worte kamen. Die maskierte Gestalt ging ruhig nach vorn und zog dabei eine Klinge, die in einer faszinierenden Aura aus arkaner Energie leuchtete. Mayym und Kennen gingen auseinander, um ihn hindurchzulassen.

"Shen!" Akali war überglücklich, ihn zu sehen.

Vor Zeds Angriff hatte Shen ihr immer Geschichten über ionische Helden vergangener Zeiten vorgelesen. Doch in Akalis Augen war Shen der wahre Held und sie träumte davon, ihm zu helfen, wenn sie erwachsen war, so wie ihre Mutter Meister Kusho zur Seite gestanden hatte.

Der neue Anführer des Ordens der Kinkou stieg auf die Überreste des Monsters, das jetzt nur noch ein Haufen war. Darauf erschien ein schimmernder Spalt, der einen Herzschlag lang die Realität verzerrte, bevor Shen darin verschwand.

"Wohin ist er gegangen?" fragte Akali.

"Ins Geisterreich." Kennen landete mit einem Rückwärtssalto direkt neben ihr. "Dieses Ding könnte seinen weltlichen Körper immer wieder aufbauen, solange der verderbte Geist in dem anderen Reich weilt. Shen kümmert sich um die Ursache."

Als Mayym auf die Neophyten zuging, wurde Akali ganz bange, als sie sich daran erinnerte, was Faey zugestoßen war.

Ausdruckslos kniete sich Mayym neben das bewusstlose Mädchen.

Es tut weh... so weh...

Faey wachte auf einer Pritsche in einer Hütte auf. Akali schlief zusammengerollt neben ihr. Es war Tag, die Zeit jedoch unklar, und von draußen drang Stimmengemurmel herein.

Faey versuchte, sich aufzusetzen und bemerkte dann, dass ihr rechtes Bein bandagiert war und der Teil unterhalb des Knies fehlte. Einige lange Augenblicke dachte sie, es wäre ein Albtraum. Sie spürte, wie ein unerträglicher Schmerz in ihrem Inneren versuchte, sich einen Weg an die Oberfläche zu bahnen und nur durch ihren Unglauben gezügelt wurde.

Ein leises Schluchzen entschlüpfte ihrem Mund.

"Meisterin Mayym, wir wissen, was wir gesehen haben!" Die Stimme eines Kindes, die nach Taij klang, drang leise, wie aus weiter Ferne, in die Hütte. "Sie hat uns in Sicherheit gebracht. Ganz alleine."

Faey schaute aus dem Fenster. Sie sah Mayym mit verschränkten Armen vor dem alten Tempel stehen, die sich dort die Geschichten der anderen Neophyten anhörte.

"Und sie war so schnell", erzählte Isa Mayym. "Der Geist konnte sie nicht fangen!"

Faey mühte sich in eine andere Sitzposition. Ein Schmerz schoss durch ihren Oberschenkel und ließ sie beinahe bewusstlos werden.

"Faey." Akali setzte sich auf und rieb sich die Augen.

Faey hielt inne und flüsterte dann: "Warum musstest du dich in das Gefecht einmischen?" Sie klammerte sich mit gesenktem Kopf und leiser Stimme an den Rand ihrer Decke bei dem verzweifelten Versuch, langsam zu atmen, damit kein weiterer Schluchzer ihrer Kehle entrann. "Warum bist du nicht gegangen, als ich es dir gesagt habe?"

"Faey..." Akali versuchte, ihren Arm zu tätscheln.

"Fass mich nicht an!" schrie Faey. "Das ist alles deine Schuld!"

Akali schreckte mit aufgerissenen Augen zurück.

"Lass mich in Ruhe", zischte Faey. Die ganze Bosheit in ihrem Inneren hatte freien Lauf. Dann sah sie Akali ins Gesicht – das Mädchen war ernsthaft verwirrt und verletzt.

Faey zögerte, doch bevor sie noch ein weiteres Wort verlieren konnte, war das kleine Mädchen bereits zum Eingang der Hütte gegangen, an dem Mayym stand und sie beobachtete.

Als Akali verschwunden war, trat Mayym ein und kniete sich neben die Pritsche. Bedrückung zeigte sich in ihren Augen. "Shen hat uns aufgesucht, als er eine Störung im Geisterreich spürte. Wir eilten zum südlichen Tal, aber wir kamen zu spät... Ich kann mir gar nicht ausmalen, was geschehen wäre, wenn er nicht Alarm geschlagen hätte."

Es tut so weh... Faey versuchte, sich aus Respekt gerade hinzusetzen, doch der Mut verließ sie.

"Die anderen Neophyten haben mir erzählt, was passiert ist", sagte Mayym mit ruhigerer Stimme und hob dabei ihr Kinn. "Du hast die Banditen der Bruderschaft fortgejagt. Du hast dazu beigetragen, einen großen Konflikt zu vermeiden."

Tränen bildeten sich in Faeys Augen. Doch sie blieb gefasst, so wie es sich für eine Schülerin im Gespräch mit ihrer Meisterin gehörte.

"Du bist mutig", sagte Mayym, "und du hast das Mantra der Kinkou verstanden."

Was spielt das jetzt noch für eine Rolle? Faeys Lippen bebten. Sie wusste, dass alles vorbei war. Mayyms Urteil stand fest: Ihr Schützling war ruiniert. All das Training... umsonst. All ihre Bestrebungen... zerstört. Sie würde nie ein Akolyth oder etwas anderes außer einer Last für den Orden sein.

"Es tut mir leid. Es tut mir so leid. "Ich habe...", Mayym stockte. "Ich habe einen schlechten Einfluss auf dich ausgeübt. Wegen Shen. Wegen allem."

Faey verstand nicht, warum sie so etwas sagte. Sie war die beste Mentorin, die sich ein Neophyt nur wünschen konnte. "Meisterin Mayym, ich habe Euch enttäuscht."

"Nein", sagte Mayym mit gebrochener Stimme. "Nein, das hast du nicht." Sie hielt Faey an den Schultern fest und sah ihr mit glühender Intensität in die Augen. "Es muss eine Möglichkeit geben, wie du wieder laufen kannst. Und wenn wir in jedem Winkel von Ionia und darüber hinaus suchen müssen, dann werden wir das tun. Unter Shens Führung werden Kennen und ich – und alle anderen Kinkou – einen Weg finden. Ich werde dich weiterhin trainieren und sicherstellen, dass du die beste Bogenschützin wirst, die es in der Geschichte beider Reiche jemals gegeben hat."

Tränen trübten Faeys Sicht und sie vergaß für einen kurzen Moment ihre Schmerzen.

Mayym wiegte Faey vorsichtig in ihren Armen, eine Umarmung, die das Mädchen seit langer Zeit nicht gespürt hatte.

In diesem Moment wurde aus Faeys Schluchzen ungehemmtes und befreiendes Weinen.

Akali stand am Eingang und spähte in den dunklen Innenraum der Hütte, wo sie die Meisterin und ihren Schützling in fester Umarmung sah.

Sie konnte sich nicht daran erinnern, wann ihre Mutter sie das letzte Mal so umarmt hatte. Sie drehte sich um und ging, den Kunai-Anhänger fest umklammert und mit tränennassen Wangen, in den Wald.

Referenzen[]

Geschichte und Ereignisse
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