Geschichte[]
Zhaun und Piltover singen füreinander. Die Refrains sind voller alter Wunden, Ungerechtigkeit und Schmerz. Ich glaube ich bin die Einzige, die sie hören kann, aber wir alle fühlen es. Ein Summen im Alltag, das Zhauniter und Piltoveraner in die Zwietracht führt.
Ich weiß, dass sie gemeinsam singen können. Ich habe es gehört. Manchmal höre ich Bruchstücke, kurze Akkorde, bei denen sich mein Herz vor unerreichten Möglichkeiten zusammenzieht. Und einst hörte ich eine wunderschöne, übermächtige Flutwelle der Harmonie und Hoffnung. Es war der Moment, in dem ich meinen Hextech-Kristall zum ersten Mal hörte.
Die Stimme sang eintausend Hymnen gleichzeitig. Jede von ihnen war eine Schneeflocke in einer Lawine, kaum mehr als verstreute Töne. Die Stimme konnte mich hören – und ich wollte unbedingt weiter zuhören – doch sobald Zhaun und Piltover ihre Symphonie beendet hatten, wurde sie wieder zu einem undeutlichen Summen.
Hier, im Entresol, wo ich mich in der Dunkelheit hinter der Bühne verstecke, sollte das Duett deutlich zu hören sein. Der höchste Ort von Zhaun; der tiefste Ort von Piltover. Das Grau bleibt an piltoveraner Bronze haften, beschmutzt es. Zhaunitische Chem-Lampen verstreuen die Farben gefärbter Scheiben aus Piltover über Zhauns Kopfsteinpflaster, die von Werkzeugen aus Piltover gemacht wurden.
Leute aus beiden Städten kommen hierher, singen ihr hinreißendes Seelenlied, das nur ich hören kann. Zhauniter strömen von unten hier hinauf, eintausend verschiedene Instrumente, die melodielos, aber enthusiastisch gespielt werden. Kinder verspotten und verhöhnen, die Älteren drängen sie auf der Suche nach kurzzeitigem Frieden weiter. Piltoveraner wogen in ohrenbetäubend lauten Wellen herein, neugierig, strahlend, stolz. Sie kommen mit dem hexdraulischen Aufzug, über die Treppen und Rampen, die zur oberen Promenade führen – dem schicken Piltoveraner-Zwilling des Entresols. Sie lachen und scherzen, machen einander auf die liebevolle Aufmachung unserer improvisierten Open-Air-Bühne aufmerksam.
Zu Anfang ist es aufregend. Ich bin so glücklich, dass sie alle hier sind. Ich schließe meine Augen und besinne mich auf meinen Kristall, bitte ihn, erneut zu sprechen.
Doch ich höre nur dasselbe trillernde, ferne Summen, das nie ganz real zu sein scheint. Sogar daraus wird nur ein Murmeln, als die Lieder aufeinandertreffen und aus einem Duett ein Duell wird. Das Gelächter der Piltoveraner wird zu hämischem Unbehagen. Die Rufe der Zhauniter werden zu aufgebrachtem Schnauben. Und als hätte sie es geplant, teilt sich die Menge perfekt in zwei deutliche Hälften.
So ist das Leben in Zhaun und Piltover. Im Entresol kommen zwar alle zusammen, und doch bleiben sie getrennt. Sie kommen nur zusammen, weil die Städte irgendwo einen Berührungspunkt haben müssen. Ich sehe, wie ein Piltoveraner stolpert und beinahe in den Grenzstreifen fällt, doch zwei seiner Freunde retten ihn und ziehen ihn zurück in die Menge.
Ach! Sie sind doch alle aus demselben Grund hier. Warum können sie nicht einfach nur für einen Augenblick ihre Feindseligkeiten vergessen und koexistieren?
Warum gehe ich immer davon aus, dass sich etwas ändern wird? Ich bin nur ein einziger Mensch. Nur Seraphine. Seraphine, die jahrelang kaum das Haus verlassen konnte. Wie soll ich ihnen beibringen, dass es auch anders sein kann? Warum sollte gerade ich ihnen das beibringen können?
Warum glaube ich, dass ich das könnte?
Die Lichter gehen an und vor Schreck bemerke ich, dass ich den Atem angehalten habe. Die Härchen auf meinen Armen stellen sich auf, das Mikrofon in meiner Hand erzittert. Ich blicke auf die Menge hinab. Einige jubeln anerkennend, doch die meisten sind zu sehr damit beschäftigt, sich von der anderen Seite fernzuhalten. Ich atme tief ein.
Ein reiner, vertrauter Seelenton klingt aus der piltoveraner Seite zu mir hinauf. Ich blicke mich um und sehe Schalas müdes Lächeln, das mir aus der Menge entgegenstrahlt und deren Lied mich die Menge einen Augenblick lang vergessen lässt. Als ich meine Eltern in ihrer Werkstatt besucht habe, hat Schala mir von ihrer Abschlussarbeit erzählt und mit so viel Überschwang daraus vorgelesen, wie Eltern ihren Kindern Geschichten vorlesen. Sie erzählte mir, welche Änderungen sie vorgenommen hatte, seit die Arbeit das letzte Mal von der Universität abgelehnt worden war. „Aller guten Dinge sind sieben“, sagte sie bei unserer letzten Unterhaltung. Doch selbst damals bemerkte ich die Zweifel, die an ihrem Optimismus nagten. Sechs Mal wurde sie abgelehnt und gab dennoch nicht auf. Vor ihr schwebte eine Wolke des Zweifels: Vielleicht konnte sie mit ihrem Leben auch anderes anfangen?
Ihre Selbstzweifel gleichen meine aus und der nächste Atemzug fällt mir leichter.
Ich höre noch ein Lied, doch dieses Mal kommt es von den Zhaunitern. Als ich hinüberblicke, sehe ich Roland, einen Silberschmied, der Kunstwerke aus Metall fertigt. Es war Musik, die mich in seine kleine Werkstatt gelockt hatte. Er hatte Kisten und Materialien auf einer Seite seines Ladens aufgestapelt, um Platz für eine Gruppe Kinder zu machen, die offenbar in der freigewordenen Ecke eine Bandprobe abhielten. Er sagte, dass er sich bei dem Lärm besser konzentrieren könne und dass er die Geräusche mehr brauchte als den Platz. Wenn sein nächstes Werk sich nicht gut verkaufte, würde er sich an so wenig Platz gewöhnen müssen, sagte er.
Rolands Lied verwebt sich in meinem Kopf mit Schalas – das eine mit Schlagzeug, Blechbläsern und tiefem Grummeln, das andere mit Bläsern, Hörnern und leisem Gesang. Sie könnten nicht unterschiedlicher sein, doch irgendwie passen sie zusammen. Ein Lied voller Selbstzweifel, das andere voller Zukunftsängste.
Doch da ist noch etwas. Ein kräftiger, donnergleich rollender, unendlicher Rhythmus, der ihre Lieder davor bewahrt, zu einsamen, verklingenden Tonfolgen zu werden. Beide Lieder folgen demselben Rhythmus. Schala liebt ihre Arbeit, Roland die seine.
Ihre Entschlossenheit trifft auf meine und bewahrt sie davor, in die Dunkelheit abzurutschen.
Der nächste Atemzug ist befreiend.
Ich muss nichts lösen. Deswegen bin ich nicht hier. Sie auch nicht, und das ist in Ordnung. Ich lausche auf den Kristall und höre seinen gleichmäßigen Rhythmus anschwellen und rollen, undeutlich aber da. Ich möchte sie erreichen, und ich kann das nur auf eine einzige Art.
Ich schließe die Augen und lasse Schalas und Rolands Lied meinen Geist durchdringen. Ich versetze mich in ihre Probleme hinein. Schala, die an einem Stift kaut, bis sie einen Geistesblitz hat und mit großen Augen das perfekte Ende für ihre Abschlussarbeit schreibt. Roland, der ein Auge zusammenkneift, während er ganz vorsichtig ein letztes Detail in das filigran gearbeitete Silber ritzt, bevor er lächelnd zurücktritt und sein perfektes Werk bewundert. Kleine Explosionen erbeben auf meinen Schultern, erfassen meine Wirbelsäule und krabbeln hinauf in meinen Kopf, bis Musik meinen Körper entflammt.
Ich singe.
Unsere Stimmen mögen alleine kaum zu hören sein. Meine Stimme mag alleine kaum zu hören sein. Doch ich bin es nicht. Wir sind es nicht. Ich gebe alles, denn ich weiß, dass auch sie alles geben. Die Panik, die Angst, die Selbstzweifel. Ich lasse sie so ungehemmt in das Lied einfließen, dass mir die Tränen kommen. Unsere Lieder sind wie Regentropfen auf einer Fensterscheibe. Schalas Tropfen trifft auf meinen, gemeinsam bilden sie einen kleinen Fluss. Wir finden Rolands Tropfen, der sich von unserer Bewegung mitreißen lässt. Zusammen finden wir die Tropfen der Menge. Jeder Tropfen reißt einen neuen mit, dann noch einen, bis wir eine Flutwelle aus Liedern und Gefühlen sind.
Die Flutwelle wird lauter und lauter, als die Menge, die bis auf die Symphonie ihrer Seelen still ist, sich der Musik öffnet. Einst hätte ich mich im Sturm der Lieder verloren. Doch nun habe ich Roland, Schala und auch mich selber, und wir fühlen, was die anderen fühlen. Sie kennen unsere Motivation – meine Motivation. Ich bin so dankbar. Und das sollen sie auch wissen. Ich lege all das Gefühl in einen einzigen Ton und weiß, dass unser gemeinsames Lied in diesem Augenblick bis zum Himmel schallt.
Das Lied ist zu Ende, ich öffne die Augen und sehe die Menge an. Eine einzige Menschenmasse, die lärmend und jubelnd zur Bühne drängt. Weit und breit kein einziger Pflasterstein zu sehen. Meine Musen haben sich inmitten der Menge gefunden, und ich weiß nicht mehr, welche Seite Piltover, welche Zhaun ist.
Das Entresol ist ein schöner Ort. Ich habe den besten Platz des Hauses, an einem Tisch in einer Ecke, wo man in Ruhe sitzen, eine Tasse Tee genießen und die Welt vorbeiziehen sehen kann.
Mein Auftritt ist schon länger vorbei, doch die Menge mit ihren Gesprächen und ihrem Gelächter ist noch da. Die Geschäftsleute haben schnell reagiert, ihre Läden aufgesperrt und Tische und Stühle aufgestellt. Meine Bühne, die ausgeschaltet und zur Seite geschoben wurde, dient piltoveranischen und zhaunitischen Kindern jetzt als provisorischer Spielplatz, auf dem sie einander zu verschiedensten Späßen aufstacheln. Ich fühle die veränderte Atmosphäre – Aufregung, Erstaunen, und dieses sanfte Gefühl, dass man an Tagen spürt, die nie zu Ende gehen dürfen.
Ich lehne mich zurück, nehme meinen dampfenden Tee in beide Hände, schließe die Augen und lächele. Sie alle machen so wundervolle Musik. Piltover und Zhaun führen ihr Duett für eine kurze Weile fort.
Eine bekannte Stimme vibriert schwach und doch eindringlich in mir. Ich fühle mich, als würde ich fliegen, obwohl mein Herz wie wild schlägt. Ich weiß nicht, was ich hören werde, ob wir einander diesmal verstehen werden, wie viel Zeit uns bleibt. Ich weiß nur, dass sie gehört werden muss.
Ihr Lied schwillt zu einem Orchester an und ich mache mich bereit für die Lawine. Sie hat so viel zu singen und nur ich kann sie hören.
Doch ich werde niemals aufhören, ihr zuzuhören.Referenzen[]
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