Geschichte[]
Den altvertrauten Geruch bemerkte sie zuerst. Heu, Erdbeeren und massives Holz. Der Hof des Gasthauses „Zum Silbertaler“ hatte einen ganz bestimmten Duft, der wehmütige Erinnerungen an längst vergangene Zeiten weckt: an hundert Konzerte, an tausend Gesichter im Laternenschein und – was am Schmerzvollsten ist – an eine Zeit, in der das Leben in Demacia einfacher und glücklicher war.
Doch diese Zeit, diese Version ihres Heimatlandes, fühlte sich fern an. Wie eine andere Welt. Als sie ihre alte Freundin Etra aus dem Gasthaus kommen sah, stockte ihr der Atem – vielleicht hatte sich auch das verändert. Doch Etra strahlte. Mit einem Jauchzer der Freude stürmte sie auf Sona zu und schloss sie in die Arme. Sona atmete erleichtert auf. Manche Dinge ändern sich eben nie.
„Du hast meinen Brief bekommen!“ rief Etra, und drückte sie fester an sich.
Sona nickte. Dann trat Etra einen Schritt zurück, um sie zu mustern, ohne dabei ihre Hände loszulassen. „Du bist weit gereist“, sagte sie beeindruckt. Sie schien Sonas Nervosität zu bemerken, denn sie verstummte, ließ ihre Hände los und wechselte in die einfache Zeichensprache, die sie im Laufe ihres Lebens entwickelt hatten. Alles in Ordnung?
Sie war erleichtert, antworten zu können. Verstanden zu werden von einem geliebten Menschen. Ja, natürlich, antwortete Sona, ob es wahr war oder nicht. Aber ich habe dich schrecklich vermisst. Sie ließ ihre Hände sinken. Sie wollte vermeiden, dass Passanten ihre deutlichen Gesten oder ihre schnippenden Finger sehen und falsche Schlüsse daraus ziehen.
Wie lange bleibst du denn diesmal?
Solange ich kann, antworte Sona. Zu einer leeren Bühne konnte ich noch nie Nein sagen.
Etra grinste. Sehr gut.
Als Sona bei Sonnenuntergang den ersten Akkord anstimmte, hatte sie noch kein Publikum, doch es dauerte nicht lange, bis sich die ersten Zuhörer versammelten. Sie stand vorne und mittig auf der Bühne des „Konzertsaals“ des „Silbertalers“ – einer umgebauten Scheune, mit einer hölzernen Empore, die als Bühne diente. Im Publikum erkannte sie einige bekannte Gesichter. Sie trugen ihre Abendpläne bei sich: in Kannen abgefüllter Wein und in Tuch eingewickelter Käse.
Sona hatte ihr Etwahl in der Mitte der Bühne aufgestellt. Die vergoldete Vorderseite strahlte frisch poliert. Das Instrument stand auf dem kleinen Rahmen, den sie nur bei Auftritten in Demacia einsetzte. Rechts von Sona schlug ein Mann namens Cal auf den Ziegenfell-Trommeln des Gasthauses den Takt. Von links stimmte Etra mit ein, und ihr Gesang war hell und klar wie sanftes Wasser.
Als sie zu ihrem vertrauten Rhythmus gefunden hatten, war das Publikum begeistert. Vor dem offenen Eingang des Saals hielten Wagen an, und Pferde wurde angebunden. Ein paar Männer hatten angefangen mitzusingen. Sie wurden schneller als üblich betrunken. Sona blickte schmunzelnd zu Etra herüber und machte ein einhändiges Zeichen: Sie haben dich auch vermisst.
Die Zeiten sind hart. Erst haben sie ihren König verloren und dann mussten sie zusehen, wie ihr Land im Chaos versinkt, und das in einem einzigen verdammten Jahr.
Just in diesem Moment schlichen sich vier Gestalten mit tief ins Gesicht gezogenen Kapuzen in die hinterste Reihe des Publikums. Dunkelblauer Stoff. An und für sich nicht allzu verdächtig, aber …
Einer von ihnen schaute hinauf zu Sona, und sie sah eine Art goldene Maske, die im Licht glitzerte.
Magiesuchende.
Sona wurde flau. Sie bemerkte auch eine minimale Reaktion ins Etras Stimme, doch sie wagten es nicht, sich anzublicken.
Sie konnten nichts anderes tun, als den Auftritt fortzuführen und den Schein zu wahren. Als nächstes stand ein Solo auf dem Programm. Etra und Cal verließen die Bühne.
Ab diesem Augenblick wollte das Publikum wirklich zuhören, und man hörte es leise murmeln und die Stühle zurechtrücken, während die Leute nach und nach Platz nahmen. Das Stück hatte keinen Namen, doch alle kannten es. Sona versuchte sich zu entspannen, bevor sie ihre Eigenkomposition vortrug. Ihre Finger glitten über die Saiten und Stille erfüllte den Raum – doch als sie die erste Note anschlug, nahm die Musik ihren Lauf.
Ihre Finger tanzten wie Glühwürmchen. Das Lied floss sanft dahin, baute sich auf, ebbte ab, und baute sich dann wieder auf.
Doch dann entwickelte sich die Musik weiter. Neue Ebenen entstanden, und sie kombinierte Noten, die eigentlich unmöglich gleichzeitig zu spielen sind. Sona blickte auf und sah nur lächelnde Gesichter und geschlossene Augen. Das Publikum war verzückt, vertieft.
Es war soweit. Das Etwahl war erwacht. Von den Saiten erhoben sich lange, verdrehte Illusionen, die sich streckten und zerrissen, und die Luft selbst schien zu summen. Sie war begeistert von ihnen – eine Sprache, die nur sie selbst und das Instrument verstanden. Niemand außer ihr konnte sie sehen.
Das Etwahl hatte jemanden auserwählt. Eine alte Frau hinten im Publikum dachte an ihren Mann, einen Bauern, und das Instrument nahm den warmen, tiefen Klang seiner Stimme an. Sona konnte ihn beinahe sprechen hören. Und in den Formen, die vor ihren Augen entstanden, sah sie die Konturen seines wettergegerbten Gesichts, die Lachfalten auf seinen Wangen. Doch die Konturen verwandelten sich in … den unscharfen Umriss einer schlafenden Gestalt. Er war krank geworden und vor einem Monat verstorben. Die Ernte war sicher schwierig ohne ihn.
Dann summte das Etwahl Sona eine persönliche Melodie vor: das letzte heisere Lied, das der Mann für seine Frau gesungen hatte. Die Töne schwebten in der Luft. Sie fing einzelne Teile der Melodie ein und wob daraus mühelos das vollständige Lied. Als sie aufblickte, sah sie, wie sich die Augenbrauen der Witwe hoben, als sie das Lied wiedererkannte, und die Tränen, die ihr über die Wangen liefen.
Sona erfüllte das Herz der Frau mit Musik. Musik, die sie wärmte. Musik, die sie tröstete. Musik, die ihr Kraft für das nächste Jahr gab.
Die Musik hatte nun ihr Crescendo erreicht. Sie und das Etwahl befanden sich in einer tiefgründigen Konversation. Die Formen hatten sich ausgedehnt, fulminant und stets in Bewegung, wie eine Aura, die den Saal umhüllt …
Ein Aufschrei ließ das Lied zerschmettern. Wie versteinert hielt sie inne. Die Formen schwebten jedoch weiter, nicht länger ein Geheimnis zwischen ihr und dem Instrument.
Sie hatte die Kontrolle verloren.
Die Magiesuchenden im hinteren Bereich hatten sich erhoben und kamen den Mittelgang entlang. Sie waren gekommen, sie zu holen. Einige von ihnen hatten ihre Kapuzen zurückgezogen. Der Rest des Publikums war immer noch erstarrt und ahnungslos. Sie hatten noch nicht bemerkt, was gerade passierte. Sona trat zwei Schritte zurück in Richtung des Torbogens, der aus der Scheune hinausführte.
„Halt!“, rief einer der Magiesuchenden. Zweifelsohne hatten sie es auf sie abgesehen. Sie hielt ihre Röcke fest und rannte los. Das Etwahl erzitterte, brach aus seinem Ständer heraus, und schwebte dann durch die Luft. Kein Grund mehr, es zu verstecken.
Sie verließ den Saal und rannte in die Dunkelheit. Sie wollte durch die Hintergasse unbemerkt in den Wald flüchten. Doch als sie am Ende der Gasse ankam, versperrten ihr zwei Magiesuchende den Weg. Sie drehte auf der Stelle um und lief zurück. Vielleicht … Nein. Drei weitere versperrten ihr den Weg zurück ins Gasthaus. Sie war gefangen.
„Wenn du keinen Widerstand leistest …“, begann einer von ihnen, doch sie nahm nur noch das Schwert aus demacianischem Stahl in seiner Hand wahr, und sonst nichts. Hinter sich hörte sie Schritte. Sie kamen näher.
Sie drückte sich gegen die Mauer des Gasthauses, und nun standen alle fünf vor ihr.
Sie berührte Etwahl mit den Fingern. Hoffentlich ist Etra davongelaufen, dachte sie.
Das Etwahl leuchtete. Sie ließ einen gewaltigen Schwall Musik ertönen. Der Akkord schoss aus ihr heraus und prallte gegen die Magiesuchenden. Die Luft schimmerte golden, leuchtete schmerzhaft. Sie ließen von ihr ab. Sie hörte ihr Stöhnen, ihre heiseren Schreie, und da wusste sie, dass es vorbei war.
Sie fingen an zu tanzen. Für Passanten muss das ein merkwürdiges Bild abgegeben haben: verzerrte, verdrehte Gestalten, die gezwungen sind, wie Marionetten zu tanzen. Das war schmerzhaft, so viel wusste sie. Aber sie musste ihnen Schmerz zufügen. Sie musste dafür sorgen, dass sie sich an nichts als den Schmerz erinnern werden. Dann würden sie sich nicht an Etra erinnern können. Sie könnten sie nicht verfolgen.
„Um Himmels Willen, hab Gnade!“
„Uff … Mein Arm–“
Zuerst flehten sie sie noch an, aufzuhören. Doch dann schafften sie nicht einmal mehr das. Man hörte nur noch Gurgeln, das Scharren ihrer Füße, und dann das Brechen von Knochen und Gelenken. Ich wollte euch nicht wehtun, dachte sie. Das will ich nie. Aber ihr … Ihr seid der Grund, warum ich mich hier nicht mehr zu Hause fühle.
Ein letzter Takt. Eine letzte Zugabe. Sie zupfte eine Saite. Der Akkord erreichte sie in tiefem Violett. Sie fielen auf der Stelle zu Boden, wie weggeworfenes Spielzeug, ohne Bewusstsein und ohne Erinnerung.
Und Sona verschwand in der Stille der Wälder.Referenzen[]
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