Geschichte[]
lief flink und leise durch den Wald. Die Morgendämmerung war bereits hereingebrochen, doch die Sonne lugte noch nicht über die Berggipfel im Osten. Das Licht war kalt und fahl und tauchte alles in Grautöne. Mit jedem gleichmäßigen Atemzug bildeten sich Wölkchen in der Luft vor Quinn.
Es gab keine Pfade durch das wilde Waldgebiet, das sich wie eine Decke über das Hügelvorland der Ostwaldberge legte. Farne und Efeu wucherten über feuchte, moosbedeckte Felsen, verrottende Baumstämme und knorrige Wurzeln, doch Quinn war hier viel eher zu Hause als in Klein- oder Großstädten und das schwierige Terrain machte ihr nichts aus. Trotz ihres Tempos lief sie so leichtfüßig, dass nur eine Handvoll Waldläufer in Demacia ihre Fährte aufnehmen könnte – und jeder einzelne dieser Handvoll war von Quinn persönlich ausgebildet worden.
Zu ihrer Rechten nahm sie eine kaum merkliche Bewegung wahr und ließ sich sofort in das Unterholz fallen, wo sie regungslos verharrte. Ihre goldenen Augen blinzelten nicht und waren zusammengekniffen, um nichts zu verpassen.
Zehn Atemzüge lang rührte sie sich nicht und blieb im Gebüsch verborgen. Dann nahm sie erneut eine Bewegung wahr und wartete angespannt … bis sie sah, dass es sich um einen Großhornhirsch handelte. Er war nicht gerade klein, sein Geweih maß bestimmt vier Armlängen. An seinem blassen, silbrigen Fell konnte man sehen, dass der Winter nicht mehr lange auf sich warten ließ.
Einige Leute behaupteten, dass ein Großhornhirsch ein gutes Omen war. Quinn war nicht sicher, ob das stimmte, aber sie hoffte es. In diesen Tagen konnte Demacia alle guten Omen gebrauchen, die es kriegen konnte.
In den letzten Monaten hatte Quinn dem Elften Bataillon geholfen, rebellische Magier durch die Wildnis von Nord-Demacia zu jagen, die vom Königsmörder
aus Gelichtergraben angestachelt worden waren. Sie hatte jedoch nicht genug Waldläufer und es war nicht gerade die Stärke des Elften Bataillons, einen Feind zu jagen, der sich nicht im Kampf stellte. Es war zu vereinzelten Gefechten und Scharmützeln gekommen, doch im Grunde versuchten sie, Rauch einzufangen.Quinn hatte in den letzten Wochen drei Waldläufer verloren und die Last der Verantwortung wog schwer auf ihr. Daher wollte es ihr nicht so recht gefallen, dass sie von der Jagd auf rebellische Magier abberufen worden war, um
und eine Truppe der Furchtlosen Vorhut auf eine diplomatische Mission jenseits von Demacias Grenzen zu begleiten. Sie sollte in drei Tagen auf der Südseite der Grünzahnberge zu ihnen stoßen.Es schien nicht der richtige Zeitpunkt für ein derartiges Unterfangen zu sein und Quinn hätte diese Mission viel lieber an eine Waldläuferin unter ihrem Kommando abgetreten – an Ulmenherz vielleicht. Allerdings hatte in dem Befehlsschreiben, das per Flinkschwinge gekommen war, Quinns Name gestanden.
Und das Siegel der Hochmarschallin Tianna Kronwacht duldete keinen Widerspruch.
Sie beobachtete den riesigen Hirsch noch einen Augenblick länger und richtete sich dann wieder auf. Das Großhorn bemerkte sie nun auch. Es blieb jedoch ohne jedes Anzeichen von Furcht stehen.
„Ehre und Respekt, edles Tier“, sagte sie und nickte ihm zu.
Es war noch ein langer Weg bis zu den Grünzahnbergen, doch der Himmel war wolkenlos. Sie war zuversichtlich, dass sie früher als geplant am Treffpunkt sein würde.
Die Sonne war endlich über die Gipfel geklettert, ließ goldenes Licht durch das Blätterdach fallen und sprenkelte den Waldboden, als der Wind sich drehte. Er trug einen entfernten, vertrauten Geruch mit sich.
Rauch.
Ein schrilles Kreischen erklang durch die Morgenluft. Quinn konnte durch die Äste der riesigen Tannen einen Blick auf Valor erhaschen.
„Was siehst du dort oben, kleiner Bruder?“, fragte sie leise.
Der Azuradler zog zwei Kreise und schoss dann wie ein gleißender blauer Pfeil nach Osten auf die aufgehende Sonne zu. Ohne zu zögern, drehte Quinn um und folgte ihm.
Kurze Zeit später stand sie auf einem Hügelkamm, wo die Bäume den Blick auf ein Tal unter ihr freigaben. Es war teilweise gerodet und auf den Feldern, die von Trockensteinmauern umgeben waren, war vereinzelt Vieh zu sehen. Unter anderen Umständen wäre das alles ein friedlicher, malerischer Anblick gewesen, doch der Rauch, der über dem dunklen Umriss einer Hütte aufstieg, zog Quinns Aufmerksamkeit auf sich. Ihre Gesichtszüge verhärteten sich.
Sie bahnte sich einen Weg den Steilhang hinunter und ins Tal.
Quinn umkreiste vorsichtig die rauchende Hütte. Banditen entzündeten manchmal solche Feuer, um arglose Opfer anzulocken, und sie wollte sich erst nähern, wenn sie eine Falle ausschließen konnte.
Sie hielt ihre geladene Repetierarmbrust in der Hand. Die Waffe war einzigartig und voller Sorgfalt gefertigt worden. Sie war bei weitem nicht so durchschlagskräftig wie eine traditionelle schwere Armbrust, doch Quinn konnte sie in einer Hand halten, während sie lief, und musste nicht nach jedem Schuss nachladen, was sie zehnmal so wertvoll machte.
Quinn runzelte die Stirn, als sie eine Reihe von Spuren auf dem Boden sah. Um diese Hütte herum hatte sich wohl gestern eine Menge abgespielt, doch jetzt schien sie allein dort zu sein. Quinn näherte sich vorsichtig mit gezückter Armbrust.
Die Hütte mochte bescheiden sein, war jedoch sorgfältig konstruiert worden. Sie drückte die noch schwelende schwere Eingangstür auf, was den verbogenen Angeln ein protestierendes Quietschen entlockte, und trat über die Schwelle.
Eine einfache Keramikvase mit einer Handvoll verwelkter Wildblumen stand auf einem vom Feuer geschwärzten Hartholztisch. Die Überreste verkohlter handgenähter Vorhänge hingen traurig von den Fensterrahmen. Sie waren zugezogen worden, wie Quinn auffiel, und die übriggebliebenen Fensterläden waren geschlossen. Das Feuer musste nach Einbruch der Dunkelheit ausgebrochen sein.
Auf einem robusten Eichentürrahmen bemerkte Quinn winzige Kerben im Holz. Sie erinnerte sich daran, wie ihre Eltern auf ähnliche Weise ihr Wachstum und das ihres Bruders aufgezeichnet hatten.
Das war keine selten genutzte Jagdhütte, sondern das Zuhause einer Familie.
Stühle und Schränke waren umgestürzt und zerschlagen worden. Schubladen waren herausgerissen und ihr Inhalt auf dem Boden verteilt worden. Nichts von Wert war geblieben. An der Wand über der Feuerstelle sah Quinn den sonnengebleichten Umriss eines Schildes.
Als sie sich umdrehte, glitzerte im Sonnenlicht, das durch ein Loch im verbrannten Dach fiel, etwas in der Asche. Sie kniete sich hin und sah einen münzähnlichen Gegenstand, der zwischen der Feuerstelle und den geschwärzten Dielen klemmte. Quinn steckte ihre Armbrust zurück ins Halfter und versuchte ihn mit der Spitze ihres Jagdmessers freizubekommen. Wahrscheinlich war er dorthin gefallen und verloren gegangen – er war ihr nur aufgefallen, weil die Hitze des Feuers die Dielen verformt hatte.
Endlich löste er sich und Quinn erkannte einen handtellergroßen Silberschild, der das geflügelte Schwertsymbol von Demacia zeigte. Auf der Rückseite waren Worte eingraviert: Malak Hornbrücke, Drittes Bataillon. Demacia weiß deine Dienste zu schätzen.
Es handelte sich um einen Gedenkschild, den die Familien von Soldaten erhielten, die im Kampf gefallen waren. Quinn hatte selbst schon einige von ihnen an trauernde Ehepartner oder Eltern übergeben müssen.
Sie steckte das Medaillon ein – es fühlte sich nicht richtig an, es hier in all der Zerstörung zu lassen – und durchsuchte weiter die Hütte. Im ehemaligen Schlafzimmer der Familie, das das Schlimmste überstanden hatte, waren feingewobene Girlanden um die Dachsparren über dem großen Bett geschlungen.
Ein kleineres Kinderbett, das in einer Ecke stand, war umgeworfen worden und Quinns Augen verengten sich zu Schlitzen, als sie sich daneben kniete. Auf den Dielen, wo das Bettchen gestanden hatte, waren mit Holzkohle Zeichnungen angefertigt worden. Die Symbole waren barbarischen Ursprungs und man bekam Derartiges in Demacia allgemein nicht zu Gesicht. Knochen und kleine Kiesel waren an bestimmten Stellen auf den Runen platziert worden und sie war darauf bedacht, keine der Linien zu durchbrechen. Sie hatte solchen Runen schon einmal gesehen …
Valors schrilles Kreischen ertönte hoch über ihr und Quinn löste sich von dem seltsamen, beunruhigenden Anblick. Geduckt schlich sie in den Hauptraum der Hütte zurück und drückte sich mit dem Rücken gegen eine Wand. Dann warf sie einen schnellen, vorsichtigen Blick durch eines der ausgebrannten Fenster.
Ein Mann mit Umhang und Kapuze näherte sich dem Eingang der Hütte, im Schlepptau hatte er einen schlaksigen, blassgrauen Hund. Der Hund knurrte leise, doch ein Wort genügte und er verstummte sofort.
Quinn positionierte sich geräuschlos im Schatten hinter der schwelenden Eingangstür. Der Mann kam herein und erstarrte wie ein Reh, das den Blick eines verborgenen Raubtieres auf sich spürt.
„Bist du das, Boss?“, fragte er in den scheinbar leeren Raum hinein.
Quinn lächelte. „Was hat mich verraten?“
Der Mann drehte sich um und streifte seine Kapuze ab. Er sah aus wie jemand, der einen Großteil seiner Zeit an der frischen Luft verbrachte, sein Gesicht war braungebrannt und sein kurzer Bart etwas struppig. Draußen vor der Tür winselte der Hund voller Vorfreude. „Man sieht heutzutage nicht mehr viele Azuradler“, erklärte er grinsend.
„Das ist wohl war“, gab Quinn zu.
„Schön, dich zu sehen, Boss.“
Quinn kniete sich draußen neben der Hütte auf den Boden und kraulte dem Hund die Ohren. Sie hatte Dalin, den Waldhüter der Grünzahnberge, und seinen treuen Hund Racker schon über ein Jahr nicht mehr gesehen.
Der Wildhüter hatte Quinn auf den neuesten Stand gebracht. Er war gerade mal eine Stunde früher als sie zur Hütte gekommen und hatte mit den Leuten in der näheren Umgebung gesprochen, nachdem er sich kurz umgesehen hatte.
„Ein Förster hat letzte Nacht eine Gruppe Männer zwischen den Bäumen gesehen, eine halbe Meile das Tal hinauf“, sagte Dalin und deute in eine Richtung. „Es war Vollmond, sonst hätte er sie nicht gesehen. Anscheinend waren es Räuber.“
„Wenn man ungesehen bleiben will, steckt man keine Hütte in Brand“, meinte Quinn. Racker rollte sich auf den Rücken und sah sie mit Augen voller Liebe und einem Hauch Ungeduld an.
„Vielleicht wollten sie nur auf dem Hinweg ungesehen bleiben und danach war es ihnen gleichgültig? Oder vielleicht haben sie das Feuer gelegt, um unbeobachtet wieder verschwinden zu können?“ Dalin warf einen Blick über seine Schulter. „Vorsicht – ich glaube, da wird jemand eifersüchtig.“
Valor starrte sie vom Ast eines abgestorbenen Baumes aus an, ohne zu blinzeln.
„Valor weiß, dass er meine einzig wahre Liebe ist“, entgegnete sie mit einem Blick auf den Azuradler und ihre Augen leuchteten, während sie dem Hund munter weiter den Bauch kraulte. „Hat es in dieser Gegend in letzter Zeit viele Banditenüberfälle gegeben?“
Dalin schüttelte den Kopf. „Bis heute war es dankenswerterweise ruhig. Die Unruhen aus der Hauptstadt machen die Leute nervös, doch die Anwesenheit so vieler Soldaten hat die meisten Räuber zurück in ihre Löcher getrieben. Ein kleiner Segen, nehme ich an. Ich habe aber gehört, dass du und deine Leute im Westen viel zu tun hatten. Schlimme Zeiten.“
„In der Tat“, stimmte Quinn ihm zu. Ihr Kiefer verspannte sich und sie wechselte das Thema. „Hier lebte die Witwe eines Soldaten mit ihrem Kind. Weiß jemand, wo sie jetzt sind?“
Der Wildhüter sah sie perplex an und schüttelte dann lachend den Kopf. „Es sollte mich wohl nicht wundern, dass du das bereits herausgefunden hast“, meinte er. „Die Frau heißt Asta. Ihr Mann starb im Kampf gegen die Magier, als es in der Hauptstadt zur Sache ging. Sie lebt allein mit ihrer Tochter.“ Er blickte zurück auf die Hütte und seufzte. „Ich habe keine Anzeichen für Blutvergießen bemerkt, als ich mich vorhin umgeschaut habe, aber es sieht nicht gut aus.“
„Gibt es keine Freunde oder Familie in der Nähe, bei denen sie sein könnten?“
„Nein, anscheinend nicht“, sagte Dalin. „Die Frau ist nicht aus Demacia. Sie geht nicht viel unter Leute. Ihr Mann war aus Lissus im Westen. Hier in der Gegend hat sie keine Familie.“
„Nicht aus Demacia?“
„Anscheinend kommt sie aus einer der unabhängigen Nationen im Osten. Niemand weiß genau, woher.“
Quinn brummte und stand auf. Sie drehte sich auf der Stelle, dachte kurz nach und blickte dann zurück auf den Wald. Sie ging auf die Bäume zu und sah sich den Boden genauer an.
„Hier“, sagte sie und blieb stehen. Dalin kam zu ihr und sie deutete auf eine Reihe von verwirrenden, überlappenden Spuren, die den Boden aufgewühlt hatten. „Sie kamen aus dem Wald und haben hier angehalten.“
Dalin ging in die Hocke und nickte. „Ich dachte zuerst, dass sie auf den richtigen Augenblick gewartet haben“, meinte er. „Aber dann sind mir diese Spuren hier aufgefallen.“
Quinn umkreiste vorsichtig die Spuren, auf die Dalin deutete, um sie nicht mit ihren eigenen Fußabdrücken zu verwischen.
„Ein zweites Paar, nicht ganz so tief wie die anderen“, murmelte sie. „Unsere Witwe und ihr Kind.“
„Ich würde sagen, sie hat sich ihnen entgegengestellt – und dann haben sie ihre Hütte geplündert und in Brand gesteckt.“ Dalin kniff die Augen zusammen. „Ich habe keine Spuren der Frau gefunden, die zurück zum Haus führen …“
„Es gibt auch keine“, stimmte Quinn ihm zu und blickte ernst drein. „Sie haben sie wohl mitgenommen. Sie und ihr Kind. Siehst du das? Die Spuren des kleinen Mädchens hören hier auf. Jemand hat sie auf den Arm genommen.“
Sie blickte zurück zur Hütte. „Aber diese Räuber haben sich der Hütte auch nicht genähert. Diejenigen, die das Feuer gelegt haben, kamen von der anderen Seite. Möglicherweise haben sich die Räuber vor dem Angriff in zwei Gruppen aufgeteilt.“
Dalin verschränkte die Arme und dachte nach. „Da ist noch etwas“, sagte er. „Ich weiß nicht, ob man dem trauen kann, aber ein paar der Leute in der Gegend glauben, dass die Frau … anders war. Eine Magierin.“
Quinn dachte an die Runen auf dem Boden unter dem Kinderbett. Ihr waren sie eher wie archaischer Aberglaube vorgekommen als Zauberei … doch sie konnte sich nicht sicher sein. Das war nicht ihr Spezialgebiet.
„Dem örtlichen Klatsch und Tratsch zufolge waren die Räuber Sylas’ Verbündete“, fuhr Dalin fort, „und sie kamen, um eine der ihren mitzunehmen. Das würde erklären, warum es keine Anzeichen für einen Kampf gibt, aber warum haben sie die Hütte niedergebrannt?“
Quinn runzelte die Stirn. Sie übersahen etwas, da war sie sich sicher. „Vielleicht war es ein Vergeltungsschlag“, grübelte sie, „weil ihr Mann gegen die Magier gekämpft hat. Vielleicht wollten sie Rache nehmen.“
„Es war nicht genug, ihn zu töten?“
Quinn zuckte mit den Achseln.
„Was immer passiert ist, ich werde sie verfolgen“, meinte Dalin. „Sie haben mindestens einen halben Tag Vorsprung, aber wenn sie das Kind tragen müssen, kommen sie nur langsam voran.“
Quinn sah zur Sonne, schätzte die Uhrzeit und überlegte, wie weit es noch bis zum Treffpunkt war, an dem Garen auf sie warten wollte. Es würde knapp werden, aber …
Die Frau, Asta, war aufgrund des Konflikts mit den Magiern zur Witwe geworden und es war wahrscheinlich, dass man sie entführt hatte. Quinn konnte das nicht guten Gewissens ignorieren.
„Ich komme mit dir“, verkündete sie. „Wir haben es mindestens mit fünf Mann zu tun, wenn ich mich nicht irre. Du wirst Hilfe brauchen.“
„Ich bin sehr froh, dass du vorbeigekommen bist, Boss.“
„Na, dann mal los“, erwiderte Quinn. „Und nenn mich nicht immer Boss.“
Theoretisch war Quinn als Waldläuferin Demacias Dalins Vorgesetzte, doch mit starren Hierarchien und Ehrentiteln fühlte sie sich nicht wohl.
„Wie du willst, Boss“, sagte Dalin grinsend. Er wusste genau, wie unangenehm ihr das war. „Komm mit, Racker! Auf geht’s!“
Racker lief mit heraushängender Zunge neben seinem Herrchen her, während Valor knapp über ihren Köpfen zwischen den Bäumen hindurchsegelte.
Der majestätische Azuradler zog an den beiden Waldläufern vorbei, die sich im Dauerlauf durch den Wald bewegten, und legte die Flügel an, um Ästen auszuweichen. Innerhalb eines Wimpernschlags war er schon nicht mehr zu erkennen. Ein paar Minuten später sahen Quinn und Dalin, dass er auf einem Ast auf sie wartete. Der Adler beobachtete sie seelenruhig, als sie unter ihm vorbeiliefen. Erst, als sie fast außer Sicht waren, schnellte er im Zickzack durch die Luft und ließ sie erneut hinter sich zurück.
Es war nicht schwer, den Gesetzlosen zu folgen – nicht zuletzt, da Racker ihre Fährte aufgenommen hatte. Zusammen mit der Witwe waren es fünf, aber sie hatten gar nicht erst versucht, ihre Spuren zu verwischen. Offensichtlich legten sie mehr Wert auf Tempo als auf Heimlichkeit. Die Waldläufer verfolgten sie über einen Hügelkamm im Norden in das nächste Tal, wo der Wald noch dicht stand. Dann führte die Spur nach Osten an einem eisigen Strom entlang, der sich von den Bergen herabschlängelte.
Quinn und Dalin rannten stundenlang, um aufzuholen. Das Terrain wurde immer steiler, je weiter sie in das Hügelvorland vordrangen. Sie verloren kein Wort und hielten nur an, um sicherzugehen, dass sie die Spur nicht verloren hatten. Racker hüpfte bei diesen Gelegenheiten übermütig hin und her, und schnüffelte im Gestrüpp herum, während Valor ihn reserviert dabei beobachtete.
Als die Sonne knapp ihren Zenit überschritten hatte, hielt Quinn an und kniete sich in den weichen Lehm neben ein paar Felsen. Ein sorglos aufgesetzter Stiefel hatte etwas Moos abgeschabt. Quinn sah sich die Stelle genauer an und klaubte einen Krümel von einem flachen Stein auf.
„Sie haben hier Brot gegessen“, stellte sie fest. „Ich würde sagen, vor einer Stunde. Vielleicht ist es auch ein bisschen länger her.“
„Wir kommen näher“, meinte Dalin, setzte sich hin und atmete schwer. Racker nutzte die Ruhepause, um von dem Strom in der Nähe zu trinken, während Valor zusah. „Bei Sonnenuntergang überholen wir sie.“
„Wir sind nicht schnell genug“, sagte Quinn und ballte frustriert ihre Fäuste. „Dann sind sie schon über die Grenze.“
„Denkst du, sie wollen Demacia verlassen?“
Quinn zuckte mit den Achseln. Sie zog ein hartes Marschbrötchen aus ihrem Gepäck, biss eine Hälfte ab und warf den Rest zu Dalin. Er fing es geschickt auf und nickte dankbar. Die Rationen schmeckten zwar nicht umwerfend – Quinn hatte die leise Vermutung, dass selbst Sägemehl mehr Geschmack hatte –, doch sie gaben ihnen Energie. Einen Augenblick später zog sie ein zweites Brötchen hervor und warf es Racker zu. Der blasse Hund fing es noch in der Luft mit schnappenden Kiefern und schlang es in einem Bissen hinunter.
„Es wäre möglich“, meinte sie dann. „Wenn sie sich nur verstecken wollten, hätten sie sich nach Norden wenden sollen. Dort oben gibt es Abgründe und Schluchten, die man in mehreren Wochen nicht alle absuchen könnte.“
Dalin kaute nachdenklich auf seinem faden Brötchen herum. „Der nächste Grenzübergang liegt einen halben Tagesmarsch im Süden“, erwiderte er. „Und da kommen sie auf keinen Fall rüber. Seit dem Mord am König sind die Tore geschlossen. In dieser Richtung gibt es nur Klippen und Wachtürme.“
„Außer es gibt noch einen Grenzübergang, von dem wir nichts wissen“, sagte Quinn. Sie sah zu Racker, der jetzt neben Dalin hechelte. „Denkst du, dein Herrchen kann mithalten, oder sollen wir ihn hierlassen, Racker?“
Der Hund erwiderte fragend ihren Blick und drehte den Kopf zur Seite.
Dalin schnaubte. „Sehr witzig.“ Dann rappelte er sich stöhnend wieder auf.
Kurze Zeit später standen Quinn und Dalin an einem Steilhang über einer Schlucht. In der Entfernung erhob sich eine riesige turmartige Felsformation über dem Blätterdach des Waldes.
„Dort“, sagte Dalin.
Eine Gruppe Menschen erklomm die Felsen. Quinn und Dalin konnten zwar keine Details ausmachen – aus dieser Entfernung waren die Räuber so groß wie Ameisen –, doch es war klar, dass sie die Grenze vor den Waldläufern erreichen würden.
„Wenn ich sie überholen könnte, kann ich sie aufhalten“, meinte Quinn.
„Du könntest sie aber nur überholen, wenn du …“, setzte Dalin an, doch er führte den Satz nicht zu Ende, da Quinn ihn verschmitzt anlächelte.
„Oh“, meinte er nur. „Stimmt ja.“
Gemeinsam sausten Quinn und Valor durch die Lüfte. Die messerscharfen Klauen des Adlers hielten die Schultern der Waldläuferin fest umklammert und sie kniff die Augen zusammen, um sich gegen den beißenden Wind zu schützen, während sie über die Bäume segelten.
„Bring uns aus nördlicher Richtung an sie heran“, rief Quinn, als sie sich dem turmartigen Felsen näherten. Sie verlagerte ihr Gewicht entsprechend und Valor setzte gehorsam im gewünschten Winkel zum Sinkflug an.
Die Räuber waren Richtung Süden um den Felsen herumgegangen und zwischen den Bäumen verschwunden, doch Quinn wollte ihnen nicht direkt folgen. Nein, sie musste vor ihnen landen, wenn sie sie lange genug aufhalten wollte, damit Dalin und Racker aufschließen konnten. Zwei Waldläufer hatten gegen fünf Räuber keine besonders guten Aussichten, doch das war immer noch besser als sich ihnen allein zu stellen.
Valor setzte seinen Sinkflug fort und Quinn zog ihre Beine an, um nicht mit den höchsten Ästen zu kollidieren. Die Felsformation ragte hoch über ihnen auf. Valor neigte sich seitwärts und flog um die Nordseite herum, wobei er durch die Aufwinde etwas an Höhe gewann. Dann kam der felsigen Boden ihnen immer näher. Valor hielt nach einem guten Landeplatz Ausschau, änderte den Anflugwinkel und bremste den Sinkflug mit seinen Flügeln ab.
Zwei weitere Schläge mit seinen mächtigen Schwingen später kamen Quinns Füße sanft auf dem Boden auf.
„Danke, Bruder“, flüsterte sie, als Valor sie freigab. Dann lief sie los, um im Dickicht des Waldes in Deckung zu gehen. Der Azuradler erhob sich, befreit von ihrem Gewicht, erneut in die Lüfte.
Quinn sprang über knorrige Wurzeln und stürmte durch Farnstauden und herunterhängende Flechten. Sie lief einen umgestürzten Baumstamm entlang und nutzte ihn als Brücke über einen rauschenden Wasserfall, dann stieß sie sich von ihm ab und rannte den Hang auf der gegenüberliegenden Seite hinauf.
Dieses Tempo hatte nichts mehr mit dem Dauerlauf zu tun, den sie für gewöhnlich stundenlang durchhalten konnte. Sie sprintete, so schnell sie konnte, und ihr Herz hämmerte in ihrer Brust. Nachdem sie den Hügel hinaufgerast war, warf sie sich auf den Boden und versteckte sich im Farnkraut. Auf den Ellbogen robbte sie zum Rand der Anhöhe und blickte hinab in den Hohlweg unter ihr.
Sie sah eine einsame Gestalt, die einen Bogen in der Hand trug. Es war ein bärtiger Mann, der in Felle gehüllt war. Er trug einen Wendering aus Bronze um einen Oberarm, der im gesprenkelten Licht glitzerte, das durch die Bäume fiel, und Quinn konnte spiralförmige Kriegsbemalungen oder Tätowierungen auf seiner bleichen Haut ausmachen.
Die Waldläuferin wusste sofort, dass dies weder ein abtrünniger demacianischer Magier noch ein Bandit war. Dieser Mann kam nicht aus Demacia.
Der Räuber hielt inne, ließ seinen Blick über den Pfad vor ihm schweifen und Quinn spürte, wie er auch sie streifte. Sie widerstand dem Drang, zurückzurobben, da die wackelnden Farne mehr Aufmerksamkeit auf sie ziehen würden, als wenn sie regungslos verharrte.
Der Fremdling war scheinbar zufrieden, hob eine Hand und gestikulierte nach vorne, bevor er seinen Weg fortsetzte. Quinn blieb, wo sie war, und wartete ab, während der Rest der Gruppe auftauchte. Einer von ihnen hatte sich einen glänzenden demacianischen Schild über den Rücken geschnallt. Das war der gestohlene Schild, der über der Feuerstelle der Hütte gehangen war – ein Schild, der einem edlen Soldaten gehört hatte, der in der Schlacht gefallen war. Es erfüllte sie mit kalter Wut, dass ein Fremdling ihn als Trophäe bei sich trug.
Es war nicht schwer, die Witwe auszumachen. Während die anderen Felle und Leder trugen, hatte sie ein einfaches, doch elegantes Wollkleid an, das sie bis zu den Knie aufgerollt hatte. Ein Pelzschal war um ihre Schultern geschlungen und sie trug ein Paar praktische hohe Stiefel. Sie sah erschöpft aus und stolperte mit gesenktem Kopf voran. Quinn atmete erleichtert auf, als sie das Kind sah, einen Säugling mit dicken goldenen Locken, das in den muskulösen Armen eines Marodeurs schlief.
Die Waldläuferin beobachtete sie noch einen Augenblick länger, dann kroch sie langsam rückwärts und legte sich einen Plan zurecht. Quinn wusste, wo die Gruppe hinwollte, denn sie war vor Jahren schon einmal hier gewesen.
In ihrer Jugend waren sie und ihr Zwillingsbruder Caleb durch die Wildnis in der Nähe ihres Heimatdorfes Uwental gestreift, das mehrere Tagesmärsche Richtung Nordwesten lag. Die beiden waren oft wochenlang in der Wildnis verschwunden, hatten Wälder und Vorgebirge erkundet, ihr eigenes Essen gejagt und unter den Sternen geschlafen. Ihr Vater war davon alles andere als begeistert gewesen, doch ihre Mutter hatte sie immer dazu ermutigt. Ihr waren Eigenständigkeit und Findigkeit schon immer äußerst wichtig gewesen und beide Kinder begleiteten sie schon sehr früh in ihrem Leben auf die Jagd.
Ihr Vater hatte sich schließlich damit abgefunden – es half wahrscheinlich, dass die Speisekammer der Familie nach einer Jagd stets gut gefüllt war mit Hirsch- und Wildschweinfleisch –, obwohl er sich weiterhin Sorgen um sie machte.
Und letztendlich war diese Sorge auch berechtigt gewesen.
Quinn war einmal hier gewesen, einen Monat vor Calebs Tod. Und deshalb wusste sie auch, dass die Fremdlinge in einer halben Meile eine enge Klamm durchqueren mussten, sollten sie ihren Weg fortsetzen.
Quinn nutzte die Deckung der Anhöhe zu ihrer Rechten und lief an der Seite über den Räubern her. Sie kam vor ihnen bei der Klamm an und rannte den Steilhang hinauf. Kaum war sie oben in Position gegangen und drückte sich mit dem Rücken gegen einen Felsen, da hörte sie, wie der erste Fremdling heraufgeklettert kam.
Quinn atmete gleichmäßig ein und aus, um ihr klopfendes Herz zu beruhigen. Sie ließ die Repetierarmbrust im Halfter, zog dafür aber ihr großes Jagdmesser. Die Klinge war lang und breit, und fast so groß wie ein Kurzschwert.
Der Fremdling war gut – er verursachte kaum einen Laut, als er den felsigen Bergtobel hinaufstieg –, doch nicht gut genug, um Quinn zu bemerken, die ihm auflauerte. Als er sich die letzte steile Anhöhe hinaufzog, trat Quinn aus ihrem Versteck hervor. Sie näherte sich ihm seitlich, sodass er sie erst im letzten Moment sah. Er versuchte sich umzudrehen und wollte die Sehne seines Bogens spannen, doch er war zu langsam. Quinn schlug ihm mit dem Knauf ihres Messers gegen die Schläfe und er ging lautlos zu Boden.
Dann zerrte sie ihn hastig außer Sichtweite. Er blutete, doch war noch am Leben. Mit raschen, geübten Bewegungen fesselte die Waldläuferin die Handgelenke des Bewusstlosen und riss sie nach hinten, um sie an seine Fußgelenke zu binden. Dann ging sie wieder an ihrem Felsen in Position. Sie zog ihre Armbrust und hielt das Messer in der anderen Hand mit der Spitze nach unten.
Dann riskierte sie einen schnellen Blick hinab in die Klamm und duckte sich wieder. Drei Räuber kletterten die steile Anhöhe unter ihr hinauf, die Witwe befand sich zwischen ihnen. Ganz vorne lief der Mann, den Quinn für den Anführer hielt – er war größer als der Rest und trug ein Kettenhemd unter seinen Fellen. Er trug auch den demacianischen Schild auf dem Rücken.
Quinn knirschte frustriert mit den Zähnen. Eigentlich hätten noch vier von ihnen übrig sein müssen. Wo war der Letzte? Hielt er ihnen nur den Rücken frei oder konnte er sich aus einem unerwarteten Winkel nähern? Sie schloss die Augen und atmete tief durch. Es war zu spät, um ihren Plan zu ändern. Sie würde sich um ihn kümmern, wenn und falls er auftauchte.
Als der Anführer der Fremdlinge näherkam, trat Quinn heraus und zielte mit der Armbrust auf seine Kehle.
Er brauchte einen Moment, um sie zu bemerken. Dann riss er die Augen weit auf, blieb stehen und griff instinktiv nach der Axt, die über seiner Schulter hing.
„Tu das nicht“, warnte ihn Quinn. Sie war nicht sicher, ob der Mann sie verstand, doch sie schüttelte den Kopf und dank dieser universellen Geste erstarrte der Mann.
Er war hochgewachsen, zwei Köpfe größer als Quinn und bestimmt doppelt so schwer, doch sie hatte den Höhenvorteil und war nicht eingeschüchtert. Sie hatte in ihrem Leben schon größere Beute zur Strecke gebracht.
Seine Haare waren strohblond, lang und zu aufwendigen Zöpfen geflochten. Sein Bart war graumeliert, und mit Knochen und Steinperlen verziert. Seine Augen waren wie Schieferplatten und er starrte Quinn an, ohne zu blinzeln.
Die Räuber hinter seiner massigen Gestalt riefen alarmiert aus, doch der große Mann gab in seiner abgehackten, rauen Muttersprache einen Befehl über seine Schulter nach hinten. Er suchte die Gegend hinter der Waldläuferin ab. Wahrscheinlich wollte er wissen, ob und wie viel Unterstützung sie hatte.
Dann richtete er seinen Blick wieder auf sie. Er leckte sich über die Lippen und Quinn wusste, dass er sich ausrechnete, mit welcher Wahrscheinlichkeit er zu ihr aufzuschließen konnte, ohne von einem tödlichen Bolzen getroffen zu werden.
„Sprichst du meine Sprache?“, fragte Quinn. „Verstehst du meine Worte?“
Der Fremdling starrte sie einen Augenblick lang an, bevor er langsam nickte.
„Lass die Frau und das Kind gehen“, sagte Quinn. „Dann müssen wir nicht herausfinden, wie lange es dauert, bis du mit einem Bolzen in der Kehle verblutest.“
Der große Mann schnaubte amüsiert. „Du hast uns verfolgt? Allein?“ Seine Stimme war tief und er sprach mit einem schweren Akzent. „Wenn du Glück hast, tötest du mich, doch meine Männer reißen dich in Stücke. Ich denke nicht, dass ich tun muss, worum du mich bittest.“
„Das war keine Bitte“, erwiderte Quinn.
Der Fremdling grinste. Zwei seiner Zähne waren aus Gold. „Du trägst Stahl in dir, Demacianerin. Das gefällt mir.“ Sein Lächeln verschwand abrupt. „Wo ist mein Späher?“
„Er lebt noch“, meinte Quinn.
„Gut. Er ist seit meinem Eheschwur mein Bruder. Meine Frau würde mir die Hölle heiß machen, wenn er umkäme.“
„Was ist hier los?“, fragte die Witwe.
Der Anführer der Fremdlinge gab eine unwirsche Antwort in seiner eigenen Sprache, doch Quinn konnte in dem Silbenwirrwarr ein Wort ausmachen: Asta. Der Name der Witwe.
Die Frau flehte. „Bitte, ich will keine …“
„Sei still!“, schrie der Anführer und drehte sich mit knallrotem Kopf halb zu ihr um. Als er sich wieder Quinn zuwandte, sah er wütend aus. „Du hättest uns nicht allein aufhalten sollen.“
Aus dem Augenwinkel sah Quinn den fünften Räuber, der sich auf dem Grat zu ihrer Linken mit dem Bogen in der Hand in die Hocke aufrichtete. Er legte den Pfeil leise an und spannte die Sehne, während er die Waffe auf sie gerichtet hielt.
Quinn erwiderte weiterhin den Blick des Anführers und lächelte ihn an. „Warum glaubst du, dass ich allein bin?“
Ein blauer Blitz kam vom Himmel geschossen und der Bogenschütze gab einen erstickten Schrei von sich. Sein Pfeil, den er eilig abgefeuert hatte, segelte ins Gebüsch, er selbst hielt seine blutende Hand umklammert und fiel nach hinten.
Die Witwe schrie auf und alle gerieten in Bewegung.
Einer der Krieger schleuderte eine Handaxt, die rotierend auf Quinn zugeflogen kam. Sie wich schnell zur Seite aus, doch das war dem Anführer schon genug. Er sprang nach vorne und schwang die Axt von seiner Schulter. Quinn feuerte in schneller Abfolge zwei Bolzen ab, doch der erste verfehlte sein Ziel und sauste wirkungslos an seinem Kopf vorbei. Der zweite erwischte den Räuber mitten in der Schulter und bohrte sich in seine Muskeln, doch er verlangsamte den Ansturm nicht.
Der Mann brüllte auf und beschrieb mit seiner Waffe einen tödlichen Bogen. Der Schlag mit der schweren Zweihandaxt sollte Quinn spalten. Sie wich vor dem wilden Hieb zurück und kerhte ihren Schwung dann um, damit sie ihm ihr Messer in die Brust rammen konnte. Sie war trotz seiner Stärke viel schneller als der Fremdling. Der Stich ins Herz hätte tödlich sein sollen, doch die Messerspitze verfing sich in seinem Kettenhemd und drang nicht tief ein.
Der Hüne trieb Quinn mit einem Ellbogen zurück, sodass sie ins Straucheln kam, dann hob er seine Axt über den Kopf und holte zu einem schweren Schlag aus. Quinn hechtete zur Seite, entging dem Angriff und feuerte aus der Nähe einen Bolzen ab, während sie sich abrollte. Der Bolzen bohrte sich über dem Knie in sein Bein und der Krieger brach vor Schmerz stöhnend zusammen.
Quinn war sofort bei ihm und hielt ihm das Messer an die Kehle.
Die anderen Räuber hielten inne und wechselten unsichere Blicke. Einer von ihnen hatte immer noch das Kind der Frau auf dem Arm, das mittlerweile jedoch laut schrie.
Die Witwe kroch auf Händen und Knien vorwärts. „Nein, nein, nein“, weinte sie. „Bitte, tu ihm nicht weh!“
Quinn blinzelte. „Du kennst … diesen Mann?“, fragte sie und blickte auf die erschöpfte, tränenüberströmte Frau vor ihr.
„Natürlich“, antwortete die Witwe. „Er ist mein Bruder.“
„Mein Ehemann war in der Hauptstadt, als der König ermordet wurde“, sagte Asta, die Witwe. Sie hielt ihre Tochter in den Armen und wiegte sie sanft hin und her, um sie zu beruhigen. „Er hat den Palast verteidigt. Die Magier haben ihn getötet.“
„Mein Beileid“, murmelte Quinn, während sie ein Stück Stoff um das Bein des Fremdlings wickelte. Sein Name war Egrid. Die Wunde in seiner Brust war nicht weiter schlimm – sein Kettenhemd hatte ihn vor Schlimmerem bewahrt – und er hatte sich den Bolzen selbst aus der Schulter gerissen.
Die anderen Krieger saßen auf Felsen in der Nähe. Einer hatte hässliche Schnittwunden an der Hand und starrte Valor böse an, der auf einem Ast über ihnen saß, während der Mann, den Quinn gefesselt hatte, sich behutsam die Schläfe rieb.
Dalin stand in Quinns Nähe und hatte das Gesicht verzogen.
„Ich habe Malak kennengelernt, als eine diplomatische Gesandtschaft vor sechs Sommern in mein Heimatland kam“, sagte Asta. „In Skaggorn war ich die Tochter eines Häuptlings, doch als Malak nach Demacia zurückkehrte, ging ich als seine Frau mit ihm.“
Quinn zog den Verband fest und lehnte sich zurück, um ihr Werk zu begutachten.
„Du bist schnell und stark, und du kannst Wunden zunähen“, sagte Egrid grinsend und ließ seine goldenen Zähne aufblitzen. „Heirate mich und komm mit mir zurück nach Skaggorn, ja?“
Quinn würdigte ihn nicht einmal mit einer Antwort. „Aber warum willst du Demacia jetzt wieder verlassen?“, fragte sie Asta. „Du musst doch gewusst haben, dass dir das nur Ärger einbringen würde.“
„Mein Volk hat Freljord vor vielen Generationen verlassen“, erklärte Asta. „Es kam über die Berge und wurde in Skaggorn sesshaft. Doch das alte Blut fließt noch in meinen Adern. Meine Großmutter war eine Seherin, ihr hättet sie als Magierin oder Hexe bezeichnet. Ich habe keinerlei solche Kräfte, doch was, wenn meine Tochter das zweite Gesicht hat? Ich habe gehört, was vor sich geht. Man würde sie mir wegnehmen. Der
allein weiß, was mit ihr geschehen würde. Das konnte ich nicht riskieren, deshalb schickte ich einen Falken zu meiner Familie und flehte sie an, uns bei der Flucht zu helfen.“„Magiesuchende“, zischte Quinn und schüttelte den Kopf.
Sie schloss die Augen und massierte sich den Nasenansatz. Wenn das Kind arkane Kräfte an den Tag legte, würden die Magiesuchenden es definitiv mitnehmen. Wäre sie in der Lage der Witwe, hätte Quinn ihr Kind wahrscheinlich schon längst außer Reichweite dieser heimtückischen Organisation gebracht. Sie konnte Asta für ihre Pläne keinen Vorwurf machen.
„Ihr versteht doch, dass wir euch nicht gehen lassen können“, sagte Dalin. „Die Grenzen sind geschlossen. Niemand darf das Land ohne besondere Erlaubnis des Hohen Rates verlassen. Nur so kann sichergestellt werden, dass der Verräter Sylas und seine Komplizen nicht entkommen und ihrer gerechten Strafe entgehen.“
„Mein Mann ist im Kampf gegen den Verräter gefallen!“, erwiderte Asta. „Alles hier erinnert mich an Malak. Ohne ihn will ich hier nicht bleiben. Und die kleingeistigen Bauern in unserem Tal hassen mich. Sie halten mich schon für eine Hexe.“
„Du hast nicht dein eigenes Zuhause geplündert, als du fortgegangen bist“, sagte Quinn. Das war eine Feststellung, kein Frage. „Und du hast es auch nicht in Brand gesteckt.“
„Was? Nein, natürlich nicht.“ Asta hielt kurz inne. „Hat das wirklich jemand getan?“
Quinn nickte. „Und die Runen unter dem Bett deiner Tochter“, meinte sie. „Das waren keine … magischen Symbole, oder?“
Asta lachte und schüttelte den Kopf. „Ein schützender Segen. Ein Symbol, das in Skaggorn alle Mütter für ihre Kinder anfertigen.“
Quinn nickte erneut, als ihr alles klar wurde. „Doch dieser Runensegen hätte auf Unwissende wie Zauberei wirken können. Ich selbst hatte das auch vermutet.“
„Ich habe die alten Traditionen stets im Geheimen praktiziert, doch meine Nachbarn waren schon immer misstrauisch“, meinte Asta. „Und seit den jüngsten Vorfällen …“
Es war nun eindeutig, dass die anderen Spuren, die zur Hütte geführt hatten, keinem Krieger aus dem fernen Skaggorn gehört hatten. Vielleicht hatten die Einheimischen nach Beweisen für Astas Zauberei gesucht. Und vielleicht hatten sie die Holzkohlerunen entdeckt und das Haus in einem unbeholfenen Versuch, die „gefährliche“ Magie auszubrennen, angezündet.
Quinn seufzte und schüttelte den Kopf. Eigentlich waren Demacianer gute, ehrenhafte Leute, doch Furcht und Misstrauen breiteten sich aus wie eine Seuche und brachten in den verängstigten Bürgern des Reiches das Schlimmste hervor. Das musste ein Ende finden.
„Ich habe etwas gefunden, das dir gehört“, sagte Quinn, als ihr wieder einfiel, was sie in den Ruinen geborgen hatte. Sie übergab den Gedenkschild und Asta traten die Tränen in die Augen.
„Danke“, erwiderte sie und drückte die Medaille fest an ihre Brust. „Ich hatte ihn für verloren gehalten. Es hat mir das Herz gebrochen, ohne ihn aufzubrechen.“
„Es tut mir sehr leid, aber wir können euch nicht erlauben, Demacia zu verlassen“, wiederholte Dalin.
„Wir gehen, ob es dir passt oder nicht, Demacianer“, knurrte Egrid und rappelte sich schwankend auf. „Stell dich uns lieber nicht in den Weg.“
„Egrid, das reicht!“, sagte Asta scharf. „Diese zwei Waldläufer erfüllen nur ihre Pflicht.“ Sie wandte sich an Quinn. „Bitte, ich flehe dich an. Lass wenigstens meine Tochter gehen. Sie sollte nicht für etwas leiden müssen, das sie nicht kontrollieren kann. Lass sie mit meinem Bruder gehen und ich kehre mit euch zurück.“
Dalin und Quinn sahen sich an. Das Gesetz war äußerst streng. Niemand durfte Demacia verlassen, weder Asta noch ihre Tochter noch die Krieger aus Skaggorn.
„Ich befürchte, das ist nicht möglich“, sagte Dalin.
„Wenn wir sie gehen lassen, brechen wir das Gesetz“, flüsterte Dalin.
Die zwei Waldläufer gingen hinter der Gruppe her, die nun nach Osten wanderte.
„Wir müssen erfahren, wie sie über die Grenze gekommen sind“, antwortete Quinn leise.
Dalin sah besorgt aus, nickte jedoch kurz und verfiel in Schweigen.
Nach kurzer Zeit erreichten sie die Klippen, die den äußeren Rand Demacias darstellten. Die Truppe aus Skaggorn führte sie an eine abgelegene Stelle, die außer Sichtweite der Wachtürme im Norden und Süden lag. Eigentlich sollte jeder Fingerbreit dieser Klippen von einem der Dutzenden demacianischen Wachtürme aus sichtbar sein, doch hier waren sie eindeutig in einem toten Winkel.
Quinn beugte sich über den Felsenrand. Es ging mehrere Hundert Fuß in die Tiefe, doch sie hatte noch nie unter Höhenangst gelitten. Sie konnte Kletterhaken erkennen, die in den Stein geschlagen worden waren. „Ihr habt euch nachts zum Fuß der Felsen geschlichen, damit euch die Wachen nicht sehen?“, fragte sie.
Egrid nickte. Quinn brummte beeindruckt.
„Das ist keine leichte Kletterpartie, selbst bei Tageslicht“, stellte sie fest. Sie blickte auf das verbundene Bein des großen Mannes. „Tut mir leid wegen deines Knies. Schaffst du das trotzdem?“
„Natürlich! Die Leute aus Skaggorn sind stark“, prahlte Egrid. „Du bist auch stark. Du solltest mit uns kommen. Unsere Kinder wären starke Krieger. Ja?“
Quinn starrte ihn wortlos an, ihr Gesichtsausdruck unergründlich. Schließlich zuckte er mit den Achseln und wandte sich ab.
„War einen Versuch wert“, murmelte er. Dann befahl er seinen Männern knapp, die Seile aus dem Versteck im Dickicht in der Nähe zu holen.
„Ich dachte, du wolltest nur sehen, wie sie ungesehen nach Demacia gekommen sind“, zischte Dalin und nahm Quinn beiseite. „Wir brechen unseren Schwur, wenn wir sie gehen lassen!“
„Ich fühle mich nicht wohl bei dem Gedanken, eine Frau hier festzuhalten und die Entführung ihres Kindes zu riskieren, nur weil ihre Blutlinie für gewisse Demacianer ein Problem sein könnte“, erwiderte sie leise. „Außerdem lautet unser Schwur, Demacia zu beschützen.“
„Und wenn wir sie gehen lassen, beschützen wir Demacia?“
Quinn warf ihm einen wütenden Blick zu. „Wenn wir sie aufhalten, gibt es zwei Möglichkeiten“, flüsterte sie. „Entweder töten sie uns und verlassen das Land trotzdem, dann hat Demacia zwei seiner besten Waldläufer verloren. Oder wir strecken sie nieder und Demacia darf sich über einen neuen Feind freuen, denn das Volk von Skaggorn wird erfahren, dass wir die Tochter eines Häuptlings gegen ihren Willen festhalten.“
Dalin warf den großen Kriegern einen Blick zu und musste ihr recht geben. „Das heißt aber nicht, dass wir das Richtige tun“, murmelte er. „Und wir brechen trotzdem das Gesetz.“
Quinn sah ihn an. „Wenn für dich die Welt schwarz und weiß ist, dann bist du in der gewöhnlichen Infanterie besser dran. Hier draußen in den Randgebieten ist alles komplizierter.“
„Die Gesetze …“
„Vergiss die Gesetze“, blaffte Quinn ihn an. „Es schadet Demacia nicht, dass wir sie ziehen lassen. Doch wenn wir sie aufhalten …“
„Aber …“
Quinn machte nur sehr selten von ihrem Rang Gebrauch … doch nun sah sie keine andere Möglichkeit.
„Lass es gut sein, Soldat“, knurrte sie. „Ich lasse sie gehen. Das ist ein Befehl.“
Dalin versteifte sich einen Augenblick lang und salutierte dann ruckartig.
„Wie Ihr wollt, Hauptmann.“
Die Sonne ging langsam unter, als die Gruppe aus Skaggorn die Klippen hinunterkletterte. Quinn wartete, bis sie sich alle auf den Weg gemacht hatten. Sie waren mit Seilen aneinandergebunden und Egrid hatte sich Astas Kind fest auf den Rücken geschnallt. Dann wandte die Waldläuferin sich ab. Wie sie es versprochen hatten, entfernten Egrids Leute die Kletterhaken bei ihrem Abstieg wieder.
Quinn blieben weniger als drei Tage Zeit, um zu ihrem Treffpunkt zu gelangen. Sie würde die ganze Nacht lang laufen müssen, zweifelte jedoch nicht daran, dass sie rechtzeitig ankommen würde. Sie sammelte sich und bereite sich mental auf die anstehende Reise vor.
Bevor sie aufbrach, hielt Quinn inne und blickte zu Dalin, der mit Racker am Rand der Klippen saß. Er schaute nach Osten, in die andere Richtung. Sie hatten kaum ein Wort gewechselt, seit die Skaggorn ihren Abstieg begonnen hatten.
„Ich erwarte nicht, dass dir bei dieser Sache wohl zumute ist“, sagte Quinn. „Doch es war das Beste, sie gehen zu lassen.“
Er sah sie an. „Das verstehe ich“, erwiderte er. „Die Welt ist nun mal nicht so einfach, wie ich sie gerne hätte.“
„Für einige Leute schon“, entgegnete Quinn und zuckte die Achseln. „Aber wir sind Waldläufer.“
Der Wildhüter der Grünzahnberge nickte langsam und stand dann auf, um sich von Quinn zu verabschieden.
„Pass gut auf sie auf, Valor, ja?“, sagte er zu dem Azuradler, der in der Nähe auf einem Ast saß. „Demacia braucht sie noch.“
Valor klapperte als Antwort mit dem Schnabel.
„Sprich mit der örtlichen Garnison“, sagte Quinn. „Sieh zu, dass man hier einen Wachturm baut. Wir müssen sicherstellen, dass diese Lücke in unserer Verteidigung endgültig geschlossen wird.“
„War das wieder ein Befehl, Boss?“
Quinn schnaubte und kraulte Racker hinter den Ohren. „So in der Art.“ Sie sah dem Wildhüter in die Augen. „Bleib wachsam und pass auf dich auf, Dalin“, sagte sie dann. „Demacia braucht auch dich noch.“
Dann wandte sie sich ab und verfiel wieder in einen Dauerlauf.Referenzen[]
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